Immer wieder hören Berater/-innen in ihrer Arbeit die erstaunlichsten Geschichten. Oft amüsant, manchmal todtraurig, immer aufschlussreich. Für die Spitzer Journalistin und Philologin Sylvia Greßler brachte die Erinnerung an einen Jahre zurückliegenden Arbeitsaufenthalt in Zentralasien solche Geschichten hervor, die im Coachingprozess zu neuen Perspektiven führten.
Grund genug, einige dieser „Kasachischen Episoden“ in loser Folge im Coaching-Blogger zu veröffentlichen. Sie bieten einen Blick zurück in die beginnenden 90er-Jahre: Interkulturelle Begegnungen und Begebenheiten aus einer anderen Welt.
Sylvia Greßler:
Im Februar 1991 war ich in Köln mit der telefonischen Zusage für eine Stelle als Journalistin nach Alma-Ata aufgebrochen. Der Chefredakteur der „Deutschen Allgemeinen“ hatte mir für meinen Aufenthalt zudem eine Wohnung versprochen. Leider wusste dieser Herr bei meiner Ankunft in der Hauptstadt Kasachstans nichts mehr davon. Kein Wunder, denn, wie sich bald herausstellte, existierte eine solche redaktionseigene Wohnung gar nicht. Zwar gab es ein Zimmer in einer Art sowjetischem Arbeiterwohnheim mit sanitären Anlagen auf dem Flur, die von sämtlichen Bewohnern des Heimes benutzt wurden – das Bewohnen dieses Zimmers wäre jedoch für eine alleinstehende Frau aus dem „Goldenen Westen“ viel zu gefährlich gewesen, außerdem hatte der Chefredakteur es sowieso anderweitig vermietet.
Von hier nach dort
Also war ich heilfroh, in Alma-Ata von einem früheren Besuch her bereits einige Menschen zu kennen, die mich allesamt vorübergehend kostenlos irgendwie irgendwo unterbrachten, sei es, indem sie selbst mit Sack und Pack für ein paar Tage zur Schwiegermutter zogen oder mir kurzerhand des Abends die Wohnzimmercouch für die Nacht frei räumten.
Und so lebte ich in der ersten Zeit ständig an einem anderen Ort bei netten Menschen, bis ich dann ein junges russisches Pärchen kennenlernte. Von ihnen erfuhr ich, dass die Mutter des Mannes gerade im Begriff war, Alma-Ata zu verlassen, um den Lebensabend irgendwo in Sibirien zu genießen. Da die Frau dem eigenen genialen Einfall selbst nicht so recht traute, wollte sie zunächst einmal auf Probe umziehen. Die Wohnung in bester Alma-Ataer Lage würde also bald leer stehen. Die Möbel sollten vorerst dort bleiben, bis man die Situation in Sibirien geortet hätte. Und genau diese Wohnung bot man mir an. Die Nachricht schien mir wie ein Fingerzeig des Himmels. Ich konnte mein Glück kaum fassen!
Endlich ein Zuhause?
Als dann der heiß ersehnte Tag des Einzugs kam, stand ich pünktlich mit Rucksack und Koffer vor der Wohnungstür und klingelte. Auf der anderen Seite der Tür stand eine ältere kräftige Russin namens Olga – eine verdiente Kolchosarbeiterin, wie sie mir sogleich erzählte –, ein weit schwächerer Mann und ein altersschwacher Schäferhund, alle von einer stattlichen Anzahl Säcken, Bündel und Taschen umstellt.
Man zeigte mir die Einzimmerwohnung und drückte mir den Wohnungsschlüssel in die Hand. Dann quetschte sich die kleine Karawane zur Tür hinaus. Ich aber war überglücklich, endlich eine feste Adresse zu haben. Eine kleine voll möblierte Wohnung mit einem Balkon – bei der kasachischen Sommerhitze Gold wert – durfte ich nun mein Reich nennen. Und das alles kostenlos. Miete kannte man zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion nicht.
Russischer Pragmatismus
Doch leider währte das Glück nicht lange. Denn schon bald musste ich feststellen, dass meine netten großzügigen russischen Vermieter von heftigem Heimweh nach Alma-Ata geplagt wurden und in weiser Voraussicht einen Wohnungsschlüssel behalten hatten. So kam es dann, dass ich eines Abends müde, aber gut gelaunt von der Arbeit nach Hause kam und, nachdem ich die Wohnungstür geöffnet hatte, den Flur mit allerlei nützlichen Dingen vollgestellt fand. Meine liebe Russin Olga war in der Küche gerade dabei, Gurken einzulegen, überall standen leere Gläser, Dill bedeckte Tisch und Boden. Meine bescheidenen persönlichen Habseligkeiten hatte man ebenfalls bereits umfunktioniert und in den Einkochprozess integriert. Auf meinen fragenden Blick antwortete Olga geschäftig, dass man doch für den Winter vorzusorgen habe, und da sie wegen irgendwelcher Angelegenheiten auf die Ämter der Hauptstadt müsse, habe sie diese Laufereien gleich mit dem Einkochen verbunden. Wie klug.
Ich war entsetzt, versuchte aber krampfhaft dies zu verbergen – mir schwante Schlimmes. Und tatsächlich: Die Herrschaften hatten so viele Erledigungen in der Stadt zu machen, dass ein Tag nicht reichte, und deshalb würde man die Nacht mit mir zusammen in dem einen Zimmer verbringen. So legte ich mich denn abends ins Bett, Olga machte es sich auf dem Sessel neben mir bequem. Ihr Lebenspartner, der, wie sie mir verriet, leider dem Alkohol verfallen, aber im Grunde ein ganz guter Mensch sei, streckte sich auf dem Sofa aus, und als Bettvorleger fungierte der Hund, der wie alle ins Alter gekommenen Hunde einen nicht mehr sehr angenehmen Duft verströmte. Am nächsten Morgen räumte und raschelte es, das Trio brach auf. Ich blieb zurück, mit den Nerven am Ende, denn ich verstand sofort, dass sich dieser Spuk wiederholen würde. Was er dann auch einige Wochen später tat.
Wertvolles weißes Pulver
Ich saß gerade im Zimmer an meiner Reiseschreibmaschine, als ich plötzlich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte. Olga und Gefolge standen im Rahmen, diesmal mit einem großen weißen Sack. Sie habe Mehl in Sibirien gekauft, erklärte sie stolz. Mit diesen Worten schleppte sie das Einkaufsgut an mir vorbei ins Zimmer, öffnete die obere Klappe des Einbauschrankes und wuchtete ohne weitere Schwierigkeiten das schwere Teil dort hinauf. (In Alma-Ata war dieses kostbare Pulver für die Bevölkerung rationiert worden.)
Der Sack musste wohl ein kleines Loch aufweisen, denn man sah eine feine weiße Spur vom Treppenhaus zum Schrank laufen. Ich schaute etwas irritiert, was Olga bemerkte. Sofort schnappte sie den Besen aus der Ecke und kehrte die Spur säuberlich zu einem Häufchen zusammen, um es dann hinter dem Vorhang im Wohnzimmer verschwinden zu lassen. „Alles wieder sauber“ – mit einem triumphierenden Lächeln schaute die erfahrene Kolchosbäuerin die perplexe Journalistin an. Meine Hoffnung sank damit ins Bodenlose, den Kampf gegen die Kakerlaken, die in jeder sowjetischen Wohnung ein typisches Übel sind, jemals gewinnen zu können. Zudem ahnte ich, dass der abgeschlossene Kleiderschrank wohl auch keine Kleider beherbergen würde. Doch mit dieser Episode war der Abhärtungskurs für mich noch nicht zu Ende.
Eine besondere Delikatesse
Kaum waren ein paar Wochen verstrichen, da bekam ich wieder lieben Besuch aus Sibirien. Diesmal kam ich des Abends hungrig von der Redaktion nach Hause, jedoch verging mir beim Anblick meiner Küche schlagartig der Appetit. Denn Olga und der gute Mensch samt Hund waren mir zuvorgekommen. Sie saßen friedlich vereint am Küchentisch und ließen sich ihren Fisch schmecken, den sie sich genüsslich mit den Fingern einverleibten.
Eigentlich alles nicht so schlimm. Aber dann zeigte Olga Bewunderung heischend auf etwas Weißliches auf einem Stuhl. Das Möbel hatte sie zur Lagerung dieser weißen Masse extra aus dem Wohnzimmer in die Küche gestellt. Fast die gesamte Sitzfläche – mit einem roten samtähnlichen Stoff bezogen – bedeckte eine etwa drei Zentimeter dicke Fettschwarte! Als Sitzmöbel war der Stuhl für mich fortan nicht mehr zu gebrauchen. „Speck!“, hörte ich Olga begeistert sagen. Der Speck bestand zu hundert Prozent aus Fett, purem Fett! Eine Delikatesse in Russland – ich aber kann bis heute nicht das kleinste bisschen Fett an Fleisch essen. „Nein, nein, vielen Dank, ich möchte nichts davon“, wehrte ich möglichst freundlich das freigiebige Angebot ab – zu Olgas großem Unverständnis. In mir stieg der pure Ekel hoch. Und als ich in diesem Gefühl gerade die Küche verlassen wollte, bemerkte ich, wie meine liebe Vermieterin die letzte Fischgräte aus dem Mund zog, sie auf den Teller vor sich legte und sich dann sorgfältig ihre „Fischfinger“ an der Gardine abwischte.
Auf ein Neues
Lange bin ich dann nicht mehr in dieser hübschen Wohnung geblieben. Eine neue Übergangslösung tat sich auf. Diesmal war der Vermieter ein Russlanddeutscher kurz vor der Auswanderung. Der Herr hatte von den Familienangehörigen in Deutschland über die Erfindung der Miete erfahren, und so musste ich diesmal zahlen, und zwar statt in den landesüblichen Rubel in DM!
Bisher veröffentlichte Kasachische Episoden:
Ein Besuch beim Betriebsarzt, Teil 1
Sjemljetrjasenie, Sekunden des Schreckens, Kasachische Episoden, Teil 2
Aktuell:
Die „Gastlichkeit“ meiner Vermieterin, Teil 3
Kommend:
Der Kohlenpott Kasachstans – Karaganda
Die Polizei – dein Freund und Helfer
Eine kasachische Köstlichkeit
Zwei Jahre Kasachstan – denkwürdige Kontakte und Freundschaften
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