Überzeugt
Wenn ich in das Geschäft komme, ist er freundlich und zugewandt. Wenn ich das Geschäft verlasse, fühle ich mich gut. So geht Verkaufen.
Es gibt einen Mann, der das beherrscht. Da das sehr selten ist, gehe ich dort gern einkaufen. Der Mann wirkt verkaufsfördernd durch eine Servicehaltung, die überzeugt.
Die mich überzeugt, dachte ich einige Jahre lang. Nur mich oder wenigstens vor allem mich. Bis ich eines Samstagnachmittags einmal einen Kaffee lang bleibe und ihn bei der Gelegenheit im Kontakt mit anderen Kunden erlebe.
Wertschätzung als „Energiespritze“
Und da entdecke ich bei ihm die gleiche Zugewandtheit, die gleiche Aufmerksamkeit und bei den Kunden das gleiche Lächeln wie bei mir, wenn sie das Geschäft verlassen.
Ich bin ein wenig enttäuscht, weil seine würdigende und wertschätzende Haltung auch anderen Kundinnen und Kunden gilt, nicht nur mir. Ich war naiv genug gewesen, das zu glauben. Wobei ich darüber bis dahin nie wirklich nachgedacht hatte. Jetzt aber denke ich nach und begreife, dass es Energie ist, die dieser Mann seinen Kundinnen und Kunden schenkt. Eine Art Energy-Lifting findet hier statt. Ich fühle mich aufgewertet, weil gesehen. Und er macht keinen Unterschied. Alle sind ihm gleich wert.
Dies ist ein starker Mann, begreife ich langsam. Einer, der es nicht nötig hat, sich über den tatsächlichen oder vermeintlichen Status eines Kunden selbst aufzuwerten. Einer, der sich in dem, was er ist, selbst genügt. Einer, der großzügig sein kann mit seiner Wertschätzung.
Dafür lieben ihn seine Kundinnen und seine Kunden.
Das ist der erste Teil der Nachricht. Die von mir stammt, Brenda Batie (55).
Eroberer
Nun folgt der zweite Teil. Darüber berichte ich, Brian Batie, Brendas Zwillingsbruder. Ich bin wie sie 184 cm groß, 55 Jahre alt, blond und blauäugig. Vom Typ her wirken wir beide eher athletisch, schnell bräunend.
Im Unterschied zu Brenda bin ich es allerdings gewohnt, mir meine Freundlichkeiten und Flirts überall abzuholen. Zum Beispiel setze ich mich gern in Cafés und genieße dort den begehrlichen Blick der jungen Bedienung. Mit mir verbinden die Frauen aus irgendeinem Grund den Sieger. Typen wie mich sieht man den lieben langen Tag auf allen Kanälen.
Dieser Typ erobert sich die Welt, kämpft und nimmt sich, was er braucht. Dieser Typ kann sehr sanft sein und weiß doch, wie Waffen funktionieren. Dieser Typ ist umschwärmt und begehrt. Dieser Typ kennt kein Alter.
Charisma des Siegertyps
Wenn ich dann auftauche, live sozusagen, sind die Frauen wie aus dem Häuschen. Mehr oder weniger dezent, sagen wir mal so.
Ich bin der Mann, mit dem sie sich schmücken möchten. Ich kann sie alle haben. Jedenfalls machen sie mich das glauben. Mit ihren sehr freundlichen Blicken, ihrem flirtenden Zwinkern, ihrem strahlenden Entgegenkommen. Zwischen 20 und 80, da ist für mich alles drin.
Das gibt mir ein gutes Gefühl. Ich verstehe das ganze Gerede über Alter überhaupt nicht. Ich fühle mich wie 35. Was ich an Jugend vielleicht eingebüßt habe, habe ich an Charisma gewonnen. Die grauen Schläfen sind mein Freifahrtschein. Mit George Clooney fühle ich mich gerade jetzt in den besten Jahren.
Was Brenda von ihrem „Starverkäufer“ erzählt, die Energie, die sie da bekommt: Nun, die kriege ich wirklich überall. Ich fühle mich einfach großartig, wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Was Brenda offenbar nur in Nischen findet, das wird mir in freier Wildbahn tausendfach entgegengebracht: Energie als Anerkennung für etwas, und ich weiß nicht genau für was. Vermutlich dafür, den Typen zu ähneln, die überall als Sinnbild für Erfolg, Schönheit und Reichtum erscheinen.
Mir macht das aber nichts, und ich kann ja nicht den ganzen Tag lang rumreflektieren, warum jetzt wer wieder mal so nett zu mir ist, nur weil Brenda den Altersblues schiebt.
Außerdem will ich nicht allen unterstellen, total verblödet zu sein, dass sie nicht unterscheiden können zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Und jetzt mal ehrlich, etwas von dem, was sie mir spiegeln, wird schon an mir dran sein, oder?
Rollentausch
Kürzlich haben Brenda und ich das alte Tauschspiel aus Kindertagen noch mal aufleben lassen. Sie hat sich als Typ verkleidet. Verkleidet ist übertrieben. Viel zu tun war da nicht, da sie ohnehin eher unisex daherkommt. Und ich hab mich als Frau verkleidet. Da gab es etwas mehr zu tun. Aber wir haben eine Visagistin im Freundeskreis. Das war hilfreich.
So sind wir in ein Kaffeehaus in der Szene. Alles wie immer. Das Freundliche, das Flirten. Und er, der das lässig zur Kenntnis nimmt. Eine knappe Erwiderung. Ganz der coole Typ – Brenda in ihrer neuen Rolle überzeugt als einer, der es einfach nicht anders kennt.
Ich daneben. Erhalte von der Bedienung ein beiläufiges Lächeln, zu kurz, um bemüht zu wirken. Gibt es die Muss-Freundlichkeit der jungen Frauen. Trocken Brot im Niemandsland. Das, was bleibt, wenn das Beste vergeben wurde. Trostlose Kost, die mir zeigt, mit mir ist kein Staat zu machen.
Plötzlich unsichtbar
Aus diesem Spiegel starrt mich eine Fratze an. Wie ein Zerrgesicht meines neuen Selbst. Ein Flirren von Gesichtern, die sich in Windeseile wandeln vom jungen Mädchen über die mittelalte Frau zur runzligen Alten. Wie ein Schreckgespenst, durch mich auf den Plan gerufen, sitze ich da, abgewehrt von der Bedienung durch bloße Zurückhaltung. Vollkommen unsichtbar gemacht, eine Straftat, bei keiner Behörde als Delikt zu melden möglich.
Wie dumm sie sind, denke ich da, die jungen Frauen, die sich so gebärden. Auf dem Grund meiner Männerlogik betrachtet, die aufs Gewinnen ausgerichtet ist, müsste ich ihnen spätestens jetzt zum Feminismus raten. Denn was sie mir in der Rolle der älteren Frau an Freundlichkeit und somit an Respekt verweigern: Sie verweigern es sich selbst. Sind sie doch die älteren Frauen von morgen. Sie denken nicht nach, ahne ich da, sie denken wirklich kein bisschen nach.
Sie handeln kurzsichtig, so, als sei gewinnen möglich, indem sie alle Energie dem Sieger schenken bzw. dem, den sie dafür halten. Sie glauben offenbar wirklich, dies sei die Abkürzung zum Glück. Und kein Trugschluss, der dazu führt, schlussendlich irgendwann selbst daneben zu sitzen. Belächelt.
Zwillingserkenntnisse
Wir haben beschlossen, dieses Spiel nicht zu wiederholen. Es führt zu nichts.
Brenda und ich versuchen, trotzdem weiter gute Zwillingsgeschwister zu bleiben, einander in Liebe verbunden. Auch wenn uns die Umwelt das ganz schön schwer macht.
Immerhin weiß Brenda jetzt, dass nicht ich als Person es bin, der gemeint ist, aber es nutzt ihr leider nichts. Ich allein bin es dennoch, der die Energie kriegt. Das ist Fakt.
Ich weiß jetzt, dass ich wirklich Projektionsfläche bin, auch wenn ich das gern bald wieder vergessen möchte, weil es einfach zu schön ist, so begehrlich angesehen zu werden.
Was Brenda mir durch die Umstände voraushat, ist außer Frage die Aufgabe, lernen zu müssen, auch in der Wüste glücklich zu sein. O Gott, irgendwann wird das etwas sein, was ich brauchen werde. Wenn ich krank werde oder wirklich alt. Das heißt, wenn es mich dann noch gibt.
Womöglich ist der eigentliche Grund dafür, warum Männer meist eher sterben als Frauen, ihre Furcht vor der Dürre. Davor, aus eigener Kraft nicht überleben zu können. Darum die Energie, die die Frauen mir überall schenken. Ein Ausdruck mangelnden Zutrauens in meine ureigensten Lebenskräfte.
Welch eine Kränkung. Aber wie umfassend organisiert, medial subventioniert und praktisch für mich. Die Ungleichbehandlung als Ausdruck einer ungeheuerlichen allgemeinen Anstrengung, Männer am Leben zu erhalten.
Medien liefern dazu weltweit die entsprechenden Identifikationsvorlagen. Darin tauchen Männer in allen Altersgruppen und Frauen bevorzugt bis 29 Jahren auf. In dieser gigantischen Inszenierung, die in alle Lebensbereiche abstrahlt, sehen viele Frauen offenbar nur einen Ausweg: Männer energetisch zu überfüttern und diese so an sich zu binden.
Familiäre Prägungen
Brenda ist Feministin geworden, weil sie mich als ihren Bruder liebt, hat sie einmal gesagt. Ich ahne nun, was sie damit meint. Unsere Mutter hat mich immer irgendwie bevorzugt. Ich war ihr kleiner Mann, als ihr Mann, also unser Vater, längst Augen für jüngere Frauen hatte. Mir war das einerseits recht, andererseits viel zu eng. Mir war oft nach weglaufen. Als mein Vater sich ihr entzogen hatte, griff sie in ihrer Verzweiflung nach mir.
Frauen halte ich mir bis heute am liebsten etwas auf Distanz. Das Servicelächeln der Bedienung ist mir gerade recht. Das kann ich kontrollieren. Und darum geht es mir vor allem, nicht die Kontrolle zu verlieren. Wie bei meiner Mutter, der ich mich in ihrem maßlosen Hunger kaum entziehen konnte.
Meine Schwester sagt, die Gleichbehandlung der Geschlechter in Cafés sei ein Grundrecht, das endlich festgeschrieben gehört. Nur so sei es möglich zu vermeiden, dass zwischen ihr und mir auf Dauer doch noch jene Konflikte aufkochen, die schon meine Eltern gespalten haben.
Dieses Grundrecht sei absolut friedensstiftend, meint Brenda. Ich glaube, sie hat recht.
Mehr Literatur zum Thema von Birgitt Morrien:
Meine Ode an Frauen im fortgeschrittenen Erwachsenenalter.
Babyboomer: Endlich 50, (k)ein Drama. Ein Brief.
Mehr Literatur zum Thema Älterwerden anderer Autorinnen:
Bednarz, Dieter: Zu jung für alt. Vom Aufbruch in die Freiheit nach dem Berufsleben. Hamburg: Edition Körber 2018
Francia, Luisa: Wer nicht alt werden will, muss vorher sterben. München: nymphenburger Verlag 2016
Mika, Bascha: Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden. München: C. Bertelsmann 2014
Williamson, Marianne: Lebensmitte / Zeit für Wunder. Veränderungen zulassen – dem Leben neu begegnen. München: Kanur 2013
Estes-Pinkola, Clarissa: Der Tanz der Großen Mutter. Von der Jugend des Alters und der Reife der Jugend. München: Heyne 2012
Riedel, Ingrid: Die gewandelte Frau. Vom Geheimnis der zweiten Lebensmitte. Freiburg: Herder 2012
Reddemann, Luise & Wetzel, Sylvia: Der Weg entsteht unter deinen Füßen. Achtsamkeit und Mitgefühl in Übergängen und Lebenskrisen. Freiburg: Kreuz 2011
Shinoda Bolen, Joan: Feuerfrau und Löwenmutter. München: dtv 2005 (http://www.jeanbolen.com/)
Luke, Helen. M: Sinn des Alters. Einsiedeln: Daimon 2001
Bührig, Marga: Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein. Freiburg: Kreuz 1987
Moltmann, Wendel: Ein eigener Mensch zu werden. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1984
5. Weltfrauenkonferenz / Poetisches Statement
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