Genre: Branding Essay
Kategorie: Dichtung und Wahrheit
Autorin: Birgitt E. Morrien
TRANSGAPPING*
oder
DIE POETISCHE DIMENSION DER DIGITALEN REVOLUTION
Mir ist zu Ohren gekommen, dass Mark Zuckerberg ein großer Träumer ist. Aber wie die allermeisten Menschen heutzutage nimmt er sich kaum noch Zeit, die Geschichten der Nacht zu erinnern und sich eingehender damit zu befassen. Morgens früh schon springt er aus dem Bett und geht den Dingen nach, die wollen, dass wir sie erledigen.
So geht Fleiß, was für sich genommen eine gute Sache ist, drum auch allseits gutgeheißen – doch schöpferisch geht anders. Und Mark Zuckerberg wusste das. Vielleicht, weil er einer – wenn auch säkularisierten – jüdischen Linie entspringt, die noch beherzigte, was der Talmud weiß, dass jeder nicht gedeutete Traum einem nicht gelesenen Brief gleichkommt.
Zuckerberg in seiner Zeitnot verlegte sich aufs Gedichtelesen, heißt es. An seinem Bett liegt immer irgendein Lyrikband. Nicht weil er ein wirklich poetischer Geist wäre, vielmehr weil die Texte kurz sind und vorm Schlafen noch schnell konsumiert werden können. Und da er im Grunde seines Herzens vielleicht ein schlichtes Gemüt hat, gefielen ihm Zeilen wie diese vermutlich besonders gut:
Liebesweisen
Könntest du bloß, wo ich bin,
immer bei mir sein und sei es
nur als Bild in einem bunten Buche,
in dem zu blättern mir möglich wäre
an jedem Ort und dies zu jeder Zeit
zu teilen mit allen / so wäre dies
mein größtes Glück.
Verließest du mich aber,
und ich dann ohne deine Liebe wäre,
so hieße es nach tränenreicher Zeit und Trauer doch
den Regeln alter Mächte folgen,
dem Lichte wieder zuzuwenden mich,
die letzte Seite umzublättern,
in anderem Gesichte findend,
dir täuschend gleich,
mein neues Glück.
Die Kunst zu staunen
Diese Zeilen einer mir unbekannten romantischen Autorin haben seit ihrem Entstehen auch über Mark Zuckerberg hinaus viele Leserinnen und Leser erfreut. Waren sie frisch verliebt oder auch gerade getrennt, sie konnten sich in diesen einfachen Zeilen wiederfinden.
Doch Mark Zuckerberg fand darin noch etwas anderes. Nach seiner Lesart verbarg sich darin der Hinweis auf eine großartige Möglichkeit, ebenso genial wie einfach: ein Gesichterbuch, das sich dank neuzeitlicher technischer Möglichkeiten tatsächlich so schaffen ließ, sodass er sich auf diesem Wege mit seiner damaligen Geliebten und später vielleicht auch mit weiteren verbinden konnte. Und mit allen anderen, die das wollten. So startete er Facebook, heißt es.
Von einer anderen Leserin hörte ich, ebenfalls eine großartige Erfinderin, dass auch sie diese Zeilen gelesen haben soll. Und auch sie sich davon anregen ließ, wenngleich in ganz anderer Art und aus anderen Motiven. Sie war womöglich gerade von einem Geliebten verlassen worden, der sich längst wieder neuen Liebschaften zuwandte. Da sie zu jener Zeit im Ausland weilte, ohne ihre geliebten Freundinnen, die sie hätten trösten können, fühlte sie sich einsam.
Der dringende Wunsch nach vertieftem Austausch zu ihrer misslichen Lage befähigte sie, durch die Zeilen inspiriert, eine Art virtuelles Tagebuch zu starten. Als technisch begabte Frau entwickelte sie ein Programm, das es auch ihren Freundinnen erlaubte, dies zu tun, und, mehr noch, sich untereinander zu verbinden. Jede konnte in den Aufzeichnungen der anderen lesen, diese kommentieren und so am Leben der räumlich abwesenden Freundinnen teilhaben.
Das war der Beginn von blogger.com, mit dem Meg Hourihan eine wahre Lawine an Volksmedien lostrat. Mit den von ihr erfundenen Online-Journalen, den Weblogs, erhalten private und professionelle Stimmen die Chance, sich erfrischend unverstellt zu zeigen.
Das Wesen des Erfolgs
Wer sich mit den Dynamiken des Erfolgs beschäftigt, diese analysiert, um Muster des Gelingens aufzudecken, wird bald fündig. Was es vor allem braucht, ist das, was Poetinnen und Poeten seit jeher liefern: geistigen Freiraum, in dem sich das Gefühl seinen Platz erobert. Hier dürfen auf engstem Raum Rotz und Wasser geheult, eigentlich undenkbare oder verbotene Dinge ausgesprochen werden und wortakrobatische Tänze stattfinden, wenn sie denn wollen. Die Diktion ist erlaubt mit oder ohne Komma, grammatisch korrekt oder auch voll daneben. Jedes Mittel scheint recht, zumindest gesprochen für die Moderne:
Transgapping
Klapp ich mich hier weg
tauch ich da wieder auf
Zauberwerk nennt das
der Verstand / Ich
nenne das
normal
Hier spinnt eine Autorin der Neuzeit, sagen die einen, andre erkennen darin eine staunenswerte Wissenslücke, jenen Raum, in dem die Antwort steht auf diese Frage: Wie kann das gehen?
Die vorgenannten Pionierinnen und Pioniere unterscheiden sich in einem besonderen Punkt von anderen Menschen: Sie verfügen offenbar über eine gewisse emotionale Stärke, die es ihnen erlaubt, den Text nicht sofort abzuwehren. Sie erlauben es sich, gewissermaßen dumm dazustehen. Sie nehmen die Frage im Text als Leitspur zu einer noch unergründeten Möglichkeit des „Transgapping“ wahr, vielleicht einer noch unbekannten Art digital ausgeführter Teleportation, und nehmen diese an. Sie halten die Spannung aus, die sich daraus ergibt, dass die ihnen bereits bekannten Konzepte nicht ausreichen, auf die hier implizit formulierte Frage eine zufriedenstellende Antwort zu vermitteln.
Vermutlich halten sie es wie Einstein, der über offene Fragen, die ihn quälten, erst einmal ein paar Nächte zu schlafen pflegte, so heißt es. Geleitet von der Absicht, Träume zu fangen, die ihm den „göttlichen Funken“ zeigen sollten.
Aufschlussreich ist ferner, dass sehr persönliche Motive maßgeblich zum Gelingen eines Vorhabens beitragen können. Mark Zuckerberg und Meg Hourihan waren meinem Bericht zufolge räumlich von geliebten Menschen getrennt. Es gab eine starke Sehnsucht, die sie antrieb, die von ihnen als sehr belastend empfundene emotionale Spannung auszugleichen, die durch die räumliche Trennung von ihren Lieben verursacht war.
Die Hohe Schule der Digitalen Revolution
Wenn wir uns auf eine Zukunft einstimmen wollen, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass wir nicht wissen, wie diese aussieht, brauchen wir dafür besondere vorbereitende Maßnahmen.
1. Wir nehmen uns täglich etwas Zeit für die Werke der Poetinnen und Poeten bzw. für die Botschaften unserer Wach- und Schlafträume.
2. Wir üben uns regelmäßig darin, die Traum/Texte zu deuten, um so die Fähigkeit zu entwickeln über das uns darin fremd Erscheinende zu staunen.
3. Wir entwickeln unsere emotionale Stärke, indem wir die sich in den Traum/Texten bekundende Differenz zu dem uns alltäglich Vertrauten erkennen und anerkennen.
4. Wir schulen unsere kognitive Intelligenz darin, in den Traum/Texten enthaltene Wissenslücken zu identifizieren und als offene Frage zu formulieren.
5. Wir trainieren unsere kreative Auseinandersetzung mit diesen schöpferisch in besonderer Weise zielführenden Fragen.
Wenn wir uns planmäßig auf die Unwägbarkeiten der Zukunft vorbereiten wollen, gelingt dies nur durch Instrumente, die das Zeug dazu haben, uns zu überraschen wie ein vielleicht verstörendes Gedicht oder wie ein besonders „guter“ oder auch „schlechter“ Traum. Alle drei liefern potenziell den Stoff für einen schöpferischen Akt besonderer Güte. Wie wir gesehen haben, kann eine abwesende oder auch gescheiterte Liebe neue Sehnsucht freisetzen und bis dahin undenkbare Ideen wecken, wie im Fall von Zuckerberg und Hourihan geschehen.
Pioniergeister sind meist aus eigenem Vermögen sensibel für besondere Möglichkeiten. Die meisten Menschen jedoch profitieren davon, wenn sie darin unterstützt werden, ihre Wahrnehmung für das Besondere und den guten Umgang damit zu schulen. Führende Kommunikationsverbände haben dies erkannt, indem sie Kongresse ausrichten, die „Trends von heute für morgen denken“. Sie laden kreative Geister ein, die darüber berichten, wie es „nur mit unmöglichen Mitteln“ möglich ist, die mentalen und emotionalen Voraussetzungen für ein zukunftsweisendes Innovationsmanagement zu schaffen.
So binden etwa künstlerisch interessierte Pioniergeister in Beratung und Lehre die Kraft der poetischen Inspiration planmäßig in ihre Lektionen ein. Sie nutzen über die unverzichtbare kognitive Intelligenz hinaus womöglich auch gelenkte Tagträume, die Analyse von Nachtträumen oder gar freie, intuitiv inspirierte Vokal- und Klanginspirationen.
Die eigenen Träume und auch das Lauschen ebenso ästhetisch wie anarchisch anmutender Stimmbilder fordern das ratsuchende Publikum fraglos dazu heraus, sich dem Fremden in sich selbst zu stellen. Wer sich darauf einlässt, findet in jedem Fall Neues. Dies zu bergen und reflektierend zu würdigen ist die Aufgabe, die dann folgt.
Wer wie ich den Geist des Neuen auf bisher ungekannte Art und Weise weckt, muss viel reden, auch wenn eins der wirksamsten Instrumente meiner DreamGuidance-Methode der Gesang ist. Alles Neue muss naturgemäß in besonderer Weise erklärt und belegt werden und –wie bereits geschehen – durch wissenschaftliche Forschung untermauert. Um meinen Weg aufrecht gehen zu können, erinnere ich mich immer mal wieder gern an Gandhi, der sinngemäß gesagt hat: Erst wirst du ignoriert, dann belächelt, später bekämpft man dich und schließlich gewinnst du.
Er war ein Pionier, der gegen die britische Kolonialherrschaft aufbegehrte. Mein Aufbegehren gilt der entwertenden Ignoranz gegenüber allem weiblich konnotierten Wissen und seinen wegweisenden Möglichkeiten, gerade auch für die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen, die uns durch die digitale Revolution ins Haus stehen. Zukunftslösungen, die den poetischen Geist unterdrücken, werden an den kommenden Herausforderungen scheitern.
Diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen braucht unser ganzes Wissen, d.h. die Aussöhnung des rational/männlich und des emotional/intuitiv konnotierten Wissens gleichermaßen. Im Kern ist dies Friedensarbeit, die in der Umsetzung, da sie auf eine radikale Balance zielt, zu bahnbrechenden neuen Lösungen führen wird.
Merke: Zuckerberg ohne romantische Lyrik, nicht auszudenken!
Post Scriptum
Aufatmen
Die Anonymisierung der Gefühle
zu transzendieren,
die im digitalen Stakkato um sich greift,
durch eine Prise Asche
aus Kuhdung gewonnen,
die wir einander als Kreis
auf die Stirn zeichnen /
Damit niemand verloren geht
in diesen Zeiten unsichtbarer
Auflösung alter Netze in neuen
Durch segensreiche Akte jetzt
Verbindungen zu schaffen,
die tragen.
*Transgapping ist eine Service Marke von COP – Birgitt E. Morrien.
Inspiriert wurde die Autorin zu ihrem Beitrag durch die LETTRE-protegierte Ausschreibung eines Essay-Wettbewerbs der Klaus und Renate Heinrich-Stiftung. Thema: Die Bedeutung der Gedichte im digitalen Zeitalter.
Hinweis: Die biografischen Angaben zu Mark Zuckerberg und Meg Hourihan bezüglich ihrer Lyrikvorliebe sind zwar frei erfunden, könnten aber dennoch stimmen. Die im Text enthaltenen Gedichte stammen sämtlich von mir.
Bei dem im Text erwähnten Kongress handelt es sich um das diesjährige ZukunftsForum der Deutschen Public Relations Gesellschaft, wo Birgitt Morrien zum Thema „Kommunikatoren unter Druck“ referieren wird.