Lange geholfen bekommen oder lange helfen – welche Prüfung!
Meint Adriaan Morrien, dessen Ideal daher ein Spender ist, der unbekannt zu bleiben wünscht. Ein Traum, aktuell wohl gleichermaßen attraktiv für große wie kleine Hilfeempfänger/innen, seien es Banken vor dem Bankrott oder Erwerbswillige ohne Einkommen, internationale Konzerne vor dem Ruin oder zur Kunst berufene Werktätige am Rande des Existenzminimums.
Jedoch dürfte die mit der Krise verbundene Übung im Alltag für verabschiedete Bankvorstände anders ausfallen als etwa für gekündigte Mitarbeiter/innen eines mittelständischen Autozulieferers auf dem Land.
Adriaan Morrien:
Die helfende Hand
Menschen wollen gern geholfen bekommen, und im allgemeinen helfen sie auch gern, wenn die Hilfe nur einige Sekunden beansprucht. Auf diesem Grundsatz beruht der Erfolg von Straßenkollekten. Haussammlungen erfordern größere Mühe. Man muß, dem Schoß der Familie entrissen, zur Haustür gehen und eine Unterschrift leisten, eine Handlung, zu der in fast allen Fällen große Selbstüberwindung nötig ist. Außerdem genügt ein Groschen nicht. Solche Sammlungen überschreiten die Zeitgrenze. Sie sind peinlich, weil sie den Rhythmus eines gesunden Egoismus unterbrechen und uns nachdenklich stimmen. Irgendwie befremdet kehren wir ins Wohnzimmer zurück, um den Faden unseres biologischen Zusammenlebens wiederaufzunehmen. Unsere Kinder unterstützen uns dabei, oft gegen Entgeld eines Groschens.
Lange geholfen bekommen oder lange helfen – welche Prüfung! Es glückt selten ohne einen Vertrag, eine Hypothek oder eine Trauung. Manchmal bedarf es noch kräftigerer Mittel: einer Berufung, eines Evangeliums, der Erscheinung eines Engels. Der Staat reicht uns eine trockene helfende Hand, wenn wir uns fortgepflanzt haben oder wenn wir alt geworden sind. Vielleicht ist das die keuscheste Form der Hilfeleistung und darum wahrscheinlich auch die langweiligste.
Jeder weiß, wie schwierig es ist, einem Helfer in die Augen zu sehen. Manche Menschen haben ein feinentwickeltes Schamgefühl, das gekränkt wird, sobald man auch nur eine Anspielung macht, dass man ihnen helfen möchte. Um diesen Leuten einen Dienst zu erweisen, muß man nicht nur über Freigiebigkeit, sondern auch über Schlauheit und Ausdauer verfügen. Man muß sie überlisten, sie zu ihrem Heil und Vorteil hereinlegen. Diese Menschensorte ist im Aussterben. Früher war es eine Ehre, in aller Stille Mangel zu leiden, eine edle Seele unter einem verschlissenen Hemd zu tragen. Seitdem sind die Hemden schöner geworden. Wir sind schamlos im Empfangen. Mein Ideal ist nach wie vor ein guter Spender, der unbekannt zu bleiben wünscht. Ich warte schon seit Jahren auf ihn.
Geld nehmen wir nicht gern an. Wir behalten es zwar gern, wenn wir es akzeptiert und einen ersten Schock überwunden haben. Bei einem Jubiläum wird es in einem Umschlag überreicht, als sei es radioaktiv. In meiner Jugend stimmte es mich traurig, wenn ich von meinen Eltern, Verwandten oder Hausfreunden ein Geldstück geschenkt bekam. Ich verstehe immer noch nicht recht warum. Warum hätte ich am liebsten geheult, wenn eine Tante mir, und sei es auch bei der Haustür im dunklen Flur, einen Groschen in die Hand drückte oder der Geschäftspartner meines Vaters mir zu Neujahr eine Silbermünze mit großem, sauberen Daumen zuschob, die ich sozusagen mit beiden Händen vom Tisch nehmen musste? Fühlte ich mich wirklich gedemütigt? Ich weiß es nicht. Es war eine unerklärliche Traurigkeit, eine innere Wunde, die plötzlich zu bluten begann, ein finanzielles Stigma.
Noch immer werde ich melancholisch, wenn ich ein Bündel abgegriffener Banknoten sehe. Das mag der Grund dafür sein, dass ich Geld gern ausgebe. Ich kann es auch nie in einem Portemonnaie aufbewahren. Es muß lose in der Tasche stecken, um seine Flügel im nächsten Augenblick auszubreiten. Denn Geld soll nicht rollen. Es muß fliegen!
Quelle: Morrien, Adriaan, Lass dir Zeit, München 1960: Langen/Müller.
Übersetzung aus dem Holländischen: Johannes Piron
Der Text folgt den Regeln der alten Rechtschreibung.
Zeichnungen: Dorothee Tilgner