Tabuzone Winnenden: Das unheimliche Verschweigen eines möglichen Tatmotivs

Wenn von zehn ermordeten Menschen neun schwarz sind, liegt ein rassistisches Tatmotiv nahe.
Wenn von zehn ermordeten Menschen neun jüdischen Glauben sind, liegt ein antisemitisches Tatmotiv nahe.
Wenn von zehn ermordeten Menschen neun weiblich sind, liegt ein sexistisches Tatmotiv nahe.

Davon aber lese ich in den Medien nichts. Warum nicht?!

Kurz nach den Morden in Winnenden schreibt Luise F. Pusch über die Logik dieses Verschweigens. Die emeritierte Professorin für Linguistik stößt damit eine wichtige Debatte an, notwendig, um eine umfassende Analyse der Geschehnisse zu ermöglichen. Und die braucht es, um auf dieser Grundlage präventive Maßnahmen entwickeln zu können, die helfen, solche Anschläge in Zukunft zu verhindern.

Koma – rückwärts – gelesen Amok!

Luise F. Pusch am 03/13 um 03:32 PM | Druckversion:

Herr Koma kommt: Der Frauenmord in Winnenden

Stellen Sie sich vor, ein junger Deutscher erschießt an einer deutschen Schule elf Menschen, zehn davon “mit Migrationshintergrund”, sieben weitere MigrantInnen schießt er krankenhausreif.

Oder: In den USA stürmt ein Weißer in die Schule und erschießt zehn Schwarze und einen Weißen. Weitere sieben Schwarze schießt er krankenhausreif. Glauben Sie, über das Motiv der Taten hätten Deutschland oder die USA auch nur eine Minute lang gerätselt?

Nein – zu Recht wäre extremer Fremden- bzw. Rassenhass vermutet worden, von den Medien, den Behörden, der Bevölkerung und der Polizei.

Der Massenmörder von Winnenden hat an der Schule acht Schülerinnen und einen Schüler erschossen, sieben weitere Schülerinnen hat er krankenhausreif geschossen. Aber alle reden nur von den getöteten oder verletzten Schülern.

Tim Kretschmer hat auch drei Lehrerinnen ermordet. Die wurden auch immer korrekt als Lehrerinnen bezeichnet. Wäre ein Lehrer dabei gewesen, hätten wir gehört, der Täter habe neun Schüler und drei Lehrer getötet.

Streng eingehalten werden die Regeln der deutschen Männersprache: Ein einziges männliches Wesen macht jede noch so große Gruppe von Frauen und Mädchen zu einer männlichen Gruppe. Acht Schülerinnen und ein Schüler sind zusammen neun Schüler. (Die Schülerinnen wurden auch nicht ermordet, sondern nur getötet.) Auch diese Sprachregelung hilft mit, das Offenkundige nicht wahrzunehmen zu müssen.

Alle sind vollkommen ratlos und fassungslos, es fehlen ihnen die Worte.

Die Frage nach dem Warum treibt alle um, auch heute noch, zwei Tage nach dem Frauenmord. Und da werden besonders gern Johannes Raus Worte zum Massenmord in Erfurt zitiert: “Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht. Wir werden sie – letzten Endes – auch nie völlig erklären können.”

Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Ist nicht Gewalt von Männern gegen Frauen, bis hin zum Mord, alltäglich bei uns und weltweit?

Manche, aber viel zu wenige Männer, ein paar Sozialpsychologen und Männerforscher, haben schon etwas begriffen von dem, was Feministinnen seit Jahrzehnten umtreibt: Es gehört zur männlichen Identität, Frauen zu dominieren, sich ihnen überlegen zu fühlen. Frauen, die Männern die Stirn bieten (z.B. Feministinnen), Mädchen, die Jungen zurückweisen und/oder überflügeln (z.B. in der Schule), Frauen und Mädchen also, die die männliche Hegemonie in Frage stellen und das zarte männliche Ego verletzen, gehören bestraft. Nur so kann die Geschlechterhierarchie wiederhergestellt und die beschädigte männliche Identität repariert werden – im Extremfall durch den Tod.

Der Frauen- und Mädchenhass des Tim Kretschmer drückt sich deutlich in seiner Tat aus. Er hat nicht “wild um sich geschossen”, wie die Medien immer wieder berichteten, er hat seine weiblichen Opfer gezielt mit Kopfschuss ermordet.

Für mich fast noch erschütternder als der Massenmord ist die völlige Blindheit all derjenigen, die über ihn berichten und über die Natur dieser Tat und ihr Motiv rätseln. Als läge das Motiv nicht klar auf der Hand: Frauenhaß, Männlichkeitswahn.

Erschütternd deshalb, weil damit die nächsten Massenmorde programmiert sind, denn eine vernünftige Prävention setzt zuallererst eine korrekte Analyse des Tatmotivs voraus. Eine solche Analyse findet nicht statt, es wird rumgenebelt in einem unfassbaren Ausmaß.

Oder eben auch wieder nicht unfassbar, sondern vorhersagbar. Aber ich hätte doch gedacht, nach über 40 Jahren Frauenbewegung wären die Zuständigen und die Öffentlichkeit schon etwas weiter, aufgeklärter.
Aber in den Medien war wieder mal Alice Schwarzer die einzige, die den Mord und sein Motiv auf den Punkt brachte – auf einen Punkt übrigens, den sie seit dem Mord an Angelika B. in Köln 1991 immer wieder betont: Frauenhass gehört genau so streng geahndet wie Fremdenhass, ja strenger, ist er doch viel weiter verbreitet. Er ist, wie gesagt, völlig alltäglich. Hier geht’s zum Schwarzer-Artikel.

Eines wird durchaus zugegeben, es lässt sich ja auch nicht verheimlichen: Dass die Amokläufer alle männlich sind. Und mit diesem widerwilligen Eingeständnis hat es sich dann aber auch schon. Da wird nie weitergefragt: Wieso denn nur Jungen und Männer? Was machen wir falsch bei der Erziehung von Jungen, was uns bei Mädchen anscheinend mühelos gelingt? Was können Jungen von Mädchen lernen?

Eben. Das ist der Punkt. Jungen sollen und wollen von Mädchen nichts lernen. Das wäre nämlich unter ihrer Würde. Sie würden dadurch ja – zu Mädchen, es bestünde jedenfalls die Gefahr. Und nichts ist in unserer Herrenkultur schrecklicher für einen Jungen.

Aus den so abgerichteten Jungen werden unsere Männer – die, die wir zu Hause haben und die in Politik, Medien und Wirtschaft. Sie haben kein Interesse und wohl auch nur selten das Rüstzeug, dem wahren Motiv dieses Verbrechens und all der anderen alltäglichen Männerverbrechen an Frauen auf den Grund zu gehen. Hier kommt ein wenig Nachhilfe von Rolf Pohl, Sozialpsychologe an der Uni Hannover:

Zur männlichen Identität gehört das unbewusste Bedürfnis, sich aufzuwerten, indem Frauen abgewertet werden. Sich als einzelner Mann von dieser Konstruktion abzugrenzen ist sehr schwer. Die Ambivalenz gegenüber Frauen prägt sich dem kleinen Jungen ein – und erfährt immer wieder Nachprägungen. Interviewer: Die Abwertung von Frauen gehört fest zur männlichen Identität? Wenn man sich anschaut, was in unserer Gesellschaft als männlich gilt,dann finden sich immer wieder zwei dominante Merkmale: zum einen eine Hierarchie innerhalb der Männergruppe – Status- und Rangkämpfe sind für eine männliche Identität sehr wichtig. Und zum anderen die Abgrenzung zur Weiblichkeit, die alle Männer in ihrer Überlegenheit miteinander vereint.

Hier mehr…
Auf RTL gab der Psychologe Gebert heute früh zum besten, was er für den Grund hält, dass Tim Kretschmer gezielt Frauen und Mädchen ermordet und angeschossen hat: Nein, sagte er, das sei wohl nicht gezielt gewesen. “Jungs werfen sich blitzschnell untern Tisch, während Frauen zur Salzsäule erstarren und nicht wissen, was sie machen sollen.” Selber schuld, die dummen Frauen.

So lange die Mehrheit auf diesem Niveau der Reflexion verharrt, werden Männer weiter Gewalt ausüben, gegeneinander, vor allem aber gegen Frauen.

Aber schuld daran ist niemand, es ist und bleibt ein Rätsel, und wir sind alle fassungs-, rat- und sprachlos. Oder noch besser, wie oben: Die Frauen sind schuld. Wie hieß doch der vereinbarte Code-Spruch zur Ankündigung des Grauens: “Frau Koma kommt!”

(Dank an Brigitta Huhnke für einen hilfreichen Email-Austausch und die Hinweise auf den Pohl-Artikel und das RTL-Interview mit  Gebert. Dank an Evelyn Thriene für den Hinweis auf den Artikel von Alice Schwarzer)

Quelle:www.fembio.org
Hinweis: Fettungen im Text stammen von Birgitt Morrien

Focus Titelseite März 2009

Ein Gedanke zu “Tabuzone Winnenden: Das unheimliche Verschweigen eines möglichen Tatmotivs

  1. Hallo Frau Morrien,

    die Männer-Frauen-Mord-Theorie ist interessant, und ich kann Ihre Verstörung nachempfinden. Dennoch sollten Sie nicht in die Falle tappen, dieselben Klischeebilder aufzubauen wie Sie in den Männerköpfen vermuten.

    Beispiel: “Zur männlichen Identität gehört das unbewusste Bedürfnis, sich aufzuwerten, indem Frauen abgewertet werden.” Diese Auffassung von Männlichkeit unter Männern gibt es zweifellos, doch ist das bereits die PERVERTIERTE Form von Männlichkeit.

    Ich war und bin in der Männerarbeit aktiv. Was ich schade finde, ist, dass das Prinzip “Männlichkeit” in der Diskussion als solches abgewertet wird. Jungen sind nicht BESSER als Mädchen, aber sehr wohl ANDERS. Die Debatte “Frauen sind die besseren Männer” halte ich für sinnlos.

    Es gibt sehr gute Teile von Männlichkeit: Entschlossenheit, Loyalität, das Beschützen der Familie, Verantwortung für eine Aufgabe, die über einen selbst hinausgeht. All das sind gute männliche Anlagen, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht erkannt und gefördert werden. Dahin sollte die Reise gehen. Es müssen genügend Männer aufstehen, die eine reife Männlichkeit vorleben. Nur so schaffen wir Rollenbilder von einer alternativen Männlichkeit, die gleichzeitig die Identität der Männer und die Frauen schützt.

    Herzliche Grüße,
    Dipl. Psych. Markus Väth

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