Wie eine Redakteurin der „Deutschen Allgemeinen“ bei ihrer Arbeit in Almaty mit dem Schrecken davon kam, der sich „Sjemljetrjasenie“ nannte. Ein russisches Wort, das sie zum Zeitpunkt ihres Zusammenpralls damit noch nicht kannte. Ein Bericht von Sylvia Greßler. Von der Spitzer Journalistin und Philologin notiert im Rahmen eines Coachingprozesses.
Bereits seit einigen Wochen arbeitete ich in der Redaktion der „Deutschen Allgemeinen“ (ehemals „Freundschaft“) in Alma-Ata, heute Almaty. Alle Kollegen und Kolleginnen verhielten sich mir gegenüber stets höflich, aber distanziert. Unsere Gespräche betrafen zumeist die Arbeit. Ich machte mir darüber keine besonderen Gedanken, zumal es meine erste Stelle als Journalistin war, ich also keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Erst viel später erfuhr ich, dass sie glaubten, in mir eine Spionin des Westens vor sich zu haben, und daher natürlich an einem engeren Kontakt nicht weiter interessiert waren.
Man hatte mir einen Arbeitsplatz in einem Raum mit zwei Schreibtischen zugewiesen. Der Kollege, der eigentlich auf dem Bürostuhl mir gegenüber Platz nehmen sollte, trat selten in Erscheinung, höchstens um Papier aus der Schublade zu holen oder auf der Suche nach einem funktionierenden Kugelschreiber. Wir schrieben alle Artikel mit der Hand und reichten sie anschließend ins Schreibbüro ein. Dort existierten drei Schreibmaschinen, an denen eigens dafür angestellte Damen unsere Werke in die für den Drucksetzer leserliche Form brachten.
Alles rennt, rettet, flüchtet
Und so saß ich an einem sonnigen Frühlingstag in meinem Büro, kaute auf meinem Stift herum und dachte über einen interessanten Anfang für meinen nächsten Artikel nach.
Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch den Raum. Ich erstarrte. Mein Schreibtisch machte einen Satz nach vorn, der Kleber hüpfte von der Tischplatte, die Schere sauste hinterher. Wie von Geisterhand gefasst, wackelte einige Sekunden lang der Schrank. Auf dem Gang vernahm ich Rufe, jemand rannte, dann hörte ich Fußgetrappel, Schreie, auf Russisch allerdings, irgendetwas klirrte, barst, krachte. Die Tür zu meinem Büro wurde aufgerissen, eine gellende Stimme schrie: „Sjemljetrjasenie! Sjemljetrjasenie!“ – immer wieder dieses Wort. Ich aber war wie gelähmt, klebte förmlich in meinem Sessel und schaute dem panischen Treiben auf dem Redaktionsflur zu.
Ich überlegte, was dieses russische Wort wohl bedeuten mochte. Nein, ich hatte es während der Uni nicht gelernt, es war eine neue Vokabel. Wieder krachte es, etwas klatschte auf den Boden. Ich befand mich mitten im Raum, mein Körper schwer wie Blei. Alle rannten, ich saß. Nach einigen Minuten – Totenstille. Ich schaute mich um: Überall auf dem Boden die Schreibutensilien verstreut, alles außer mir stand an einer anderen Stelle als noch vor dem Spuk.
Keine Menschenseele
Ich wartete, horchte, guckte – und ganz allmählich spürte ich wieder Gefühl in Armen und Beinen. Vorsichtig streckte ich mich, stand in Zeitlupe auf, nahm meinen Pelz und meine Tasche und bewegte mich zur Tür. Alles erschien mir wie in einem Nebel, meine Sinne arbeiteten nur langsam. Der Boden des Korridors war übersät mit Flatschen von Putz, die von Wänden und Decke heruntergekommen waren, Lampen baumelten herab, alle Redaktionstüren standen sperrangelweit offen, keine Menschenseele in dem sonst so belebten Pressehaus. Ich ging zur Treppe, klammerte mich fest ans Geländer und stieg Stufe für Stufe vom zweiten Stock zum Ausgang hinab. Auch draußen auf der Gorkistraße – niemand. „Sjemljetrjasenie“, sagte ich immer wieder leise vor mich hin, ein Zauberwort! Mit zitternden Beinen ging ich ganz langsam nach Hause. Dort schaute ich ins Wörterbuch. „Sjemljetrjasenie: Erdbeben“. Ach so.
Um eine Erfahrung reicher
Erst Stunden später verließ mich die unheimliche Starre, die meinen Körper und Geist fest umklammert hatte. Ich spürte förmlich, wie ich auftaute. Und dann erfüllten mich ein überwältigendes Glücksgefühl und eine tiefe Dankbarkeit meinem Schöpfer gegenüber: Mir war nichts passiert! Ich zog los und kaufte mir einen Ring und ein Paar Ohrringe zum Andenken an dieses Erlebnis. Den Schmuck trage ich bis heute noch gerne.
Am nächsten Tag blieben alle Menschen der Arbeit fern, da man aus Erfahrung wusste, dass Nachbeben zu erwarten waren. Sie kamen auch, aber die Erde wankte nur noch schwach. Später erfuhr ich, dass die kasachische Hauptstadt häufig von Erdbeben heimgesucht wird und daher die Bevölkerung auf diese Katastrophe einigermaßen vorbereitet ist.
Anmerkung:
Dies ist der zweite Teil einer Reihe von insgesamt sieben kasachischen Geschichten bzw. Berichten von Sylvia Greßler, die nach und nach im Coaching-Blogger veröffentlicht werden.
Ein Besuch beim Betriebsarzt. Kasachische Geschichten, Teil 1
H I N W E I S E
Dies ist der zweite Teil einer Reihe von insgesamt sieben "Kasachischen Episoden" von Sylvia Greßler, die nach und nach im Coaching-Blogger veröffentlicht werden.
Foto-Ansichten – Eine Art Facebook: Die Gesichter meiner Coachees.
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Ein Besuch beim Betriebsarzt,
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