Eine deutsche Journalistin klärte bereits vor zwanzig Jahren in der „Deutschen Allgemeinen, Zeitung der Russlanddeutschen“ über die Hintergründe des Auswanderungswillens der Russlanddeutschen auf: Ein Drittel der 200.000 Deutschstämmigen aus dem Karagandaer Gebiet leben bereits in der BRD. Sylvia Greßler über die Unwirtlichkeit eines Steppenortes, umgeben von den ehemaligen Straflagern Stalins.
Nach einem 1.000-km-Flug in einer Propellermaschine von Alma-Ata nach Zentralkasachstan Landung in Karaganda. 600.000 Einwohner, darunter ein hoher Anteil an Russlanddeutschen. Inmitten der Steppe, umgeben von den ehemaligen Straflagern Stalins, dem berüchtigten „KARLag“ Solschenizyns, und von Kohlefördertürmen umstellt – der Ruhrpott Kasachstans.
Auch hier die raue, aber herzliche Atmosphäre zwischen den Menschen, die einen großen, wenn nicht den größten Teil ihres Lebens unter der Erdoberfläche bei künstlichem Licht und unter schwierigen Bedingungen Kohle zu Tage fördern. Die technischen Mittel haben sich in den letzten 50 Jahren kaum verändert. Nicht nur in den Schächten ist es schwarz, auch über der Erde ist alles mit einer dicken Kohlenstaubschicht bedeckt. Ein weißes Hemd kann man nicht länger als zwei Stunden tragen, nach kurzem Spaziergang Kratzen im Hals, Schluckbeschwerden, Durst, die Nasenlöcher setzen sich spürbar zu. Die Luft ist so staubhaltig, dass man alles wie durch einen Graufilter sieht.
Zudem das typische Problem aller Städte in der kasachischen Steppe – Wassermangel. Wer im vierten Stock wohnt, muss das kühle Nass beim Nachbarn im Erdgeschoss erbitten und es dann in Eimern die Treppe hinauftragen. Warmes Wasser gibt es höchstens in den Neubauten, und das auch nur einige Stunden am Tag. Kein Wunder, dass sich die Reihen der Kumpels lichten, die Russlanddeutschen wandern aus. Ein Drittel der 200.000 Deutschstämmigen im Karagandaer Gebiet sind bereits in der BRD. „Ich will, dass wenigstens meine Kinder wissen, dass die Blätter an einem Baum grün sind und der Schnee im Winter weiß“, erklärt Alexander Reichert seine Ausreiseabsichten.
Und dennoch gibt es Deutsche, die bleiben wollen, so Anatol Schwarz: „Ich bin Kumpel und habe mein Leben lang Kohle geschaufelt. In Deutschland nimmt man mich nicht als Bergmann, was anderes habe ich aber nicht gelernt. Ich liebe diese dreckige Stadt und die Weiten der umliegenden Steppe.“ Auf den Straßen Karagandas Autos mit deutschen Kennzeichen. Irgendetwas scheint tatsächlich hierher zu ziehen, vielleicht die Sehnsucht nach den ehemaligen Kumpels.
(Erschienen am 12.11.1991 in der „Deutschen Allgemeinen, Zeitung der Russlanddeutschen“, der deutschsprachigen Wochenzeitung in Zentralasien, und gesendet im deutschen Rundfunk einige Tage zuvor)
H I N W E I S
Dies ist eine weitere Folge einer Reihe von insgesamt sieben "Kasachischen Episoden" von Sylvia Greßler, die nach und nach im Coaching-Blogger veröffentlicht werden. Die Texte sind entstanden im Rahmen eines Coachings bei Birgitt Morrien.
Ausgewählte Coachees im Fotoportrait – Eine Art Facebook: Die Gesichter meiner Coachees.
Bereits veröffentlichte "Kasachische Episoden":
Ein Besuch beim Betriebsarzt,
Die „Gastlichkeit“ meiner Vermieterin
Das Erdbeben – Sekunden des Schreckens
Aktuell:
Der Kohlenpott Kasachstans – Karaganda
Kommend:
Die Polizei – dein Freund und Helfer
Eine kasachische Köstlichkeit
Zwei Jahre Kasachstan – denkwürdige Kontakte und Freundschaften
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