Poetischer Sommer mit Frühnachrichten

In einer kleinen Kapelle im Montafon fand Birgitt Morrien jüngst eine Hymne an das Leben, ausgeführt als Anrufung einer berühmten deutschen Schriftstellerin.

 

Gertrud von le Fort
 

Die Stimme der Frühe

Ich habe noch Blumen aus der Wildnis im Arme,
ich habe noch Tau in meinen Haaren
aus Tälern der Menschenfrühe.

Ich habe noch Gebete, denen die Flur lauscht,
ich weiß noch, wie man die Gewitter
fromm macht und das Wasser segnet.

Ich trage noch im Schoße die Geheimnisse
der Wüste, ich trage noch auf meinem Haupt
das edle Gespinst grauer Denker.

Denn ich bin Mutter aller Kinder dieser Erde:
was schmähest du mich, Welt, daß ich
groß sein darf wie mein himmlischer Vater?

Siehe, in mir knien Völker, die lange dahin
sind, und aus meiner Seele leuchten noch
dem  Ew’gen viele Heiden!

Ich war heimlich in den Tempeln ihrer Götter,
ich war dunkel in den Sprüchen
all‘ ihrer Weisen.

Ich war auf den Türmen ihrer Sternsucher,
ich war bei den einsamen Frauen,
auf die der Geist fiel.

Ich war die Sehnsucht aller Zeiten,
ich war das Licht aller Zeiten, ich bin
die Fülle der Zeiten.

Ich bin ihr großes Zusammen, ich bin ihr
     Ewiges Einig.
Ich bin die Straße aller ihrer Straßen:
auf mir ziehen die Jahrtausende zu Gott.

 

Literaturtipp: Die Letzte am Schafott

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