Vaterland ohne grosse Mütter: (Kein) Nach/Denken an Christa Wolf

Wo die Leitmedien den ersten Todestag einer der größten deutschen Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit ohne Gedenken verstreichen lassen, schlägt die Stunde der Bloggerin: Mit „August“ erinnert Birgitt Morrien an Christa Wolf, die heute vor einem Jahr starb.

 

Birgitt Morrien

Heute denke ich schon beim Aufstehen an Christa Wolf und entdecke später am Tag wie zufällig, wohl auch deshalb, in meinem Buchladen ihre neue Erzählung „August“, posthum veröffentlicht. August, das klingt für mich nach einer Mischung aus Sommerflirren und Nachkriegszeit.

Mein Vater hieß so. Er lief im letzten Kriegsjahr tausende Kilometer nach Hause, bloß, um eine fremde Frau zu treffen, meine Mutter, und um mich zu zeugen. So fühlt es sich an, und meine Geschwister. Und nachdem er das geschafft hatte, traf ihn der Schlag, und er starb.

Seine Schrecken sitzen mir tief in allen Gliedern.  Auch die meiner Mutter, Überlebende eines Bombenangriffs, der zu schnell kam, um davor noch in einen Luftschutzbunker zu flüchten. Nur der eigene Keller blieb, auf den das Haus jedoch kurz  danach einstürzte. Doch sie überlebte.

Wie ich „August“ zu lesen beginne, sind sie gleich alle wieder da, die alten Geschichten, die miterlebten Erzählungen und die aus bedrängenden Atmosphären erahnten Gräuel. Dank dieser Art Wissen ist mir Wolfs‘ Protagonist gleich vertraut:

„August erinnert sich: Er war wie jedes der Kinder, die bei Kriegsende ohne Eltern auf der Bahnstation in Mecklenburg ankamen, befragt worden, wann und wo er seine Mutter verloren hatte. Aber das wußte er ja nicht. Ob der Bombenangriff auf den Flüchtlingszug vor oder nach der Fahrt über den großen Fluß erfolgt war, den sie die Oder nannten. Auch das wußte er nicht. Er hatte ja geschlafen.

Als der schreckliche Krach anfing und die Leute schrien, hat eine fremde Frau, nicht seine Mutter, ihn am Arm gepackt und aus dem Zug gerissen. Er hat sich hinter die Böschung in den Schnee geworfen und ist liegen geblieben, bis der Lärm aufhörte und bis der Zugführer schrie, alle, die noch lebten, sollten sofort einsteigen.

August hat weder seine Mutter noch diese fremde Frau je wiedergesehen. Ja, da lagen Leute über das Feld versteut, die nicht in den Zug eingestiegen sind, der dann bald weiterfuhr." Beinah lakonisch liest sich dieser erste Absatz, mit dem Christa Wolf ihre letzte Erzählung eröffnet.

 

Hinweis: Namentliche biografische Angaben wurden von Birgitt Morrien fiktionalisiert: So hieß ihr Vater Ewald, nicht August.

 

Literatur:

Alberti, Bettina: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München: Kösel 2011

Morrien, Birgitt: Coaching mit DreamGuidance. Wie berufliche Visionen Wirklichkeit werden. München: Kösel 2012

Schützenberger, Anne Ancelin: Oh, meine Ahnen. Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt. Heidelberg: Carl-Auer 2010

Wolf, Christa: August. Erzählung. Berlin: Suhrkamp 2012
Wolf, Christa: Stadt der Engel. The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp 2011
Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T, Berlin: Suhrkamp 2006
Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Berlin: Suhrkamp 2007

 

 

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