Man braucht sich vor offenen, ungelösten Fragen nicht zu fürchten, weiß Rainer Maria Rilke. Vielmehr empfiehlt der große Lyriker in seinem Gedicht über die Geduld, „die Fragen selbst lieb zu haben“, um vielleicht eines Tages unmerklich in eine Antwort hineinzuwachsen.
Man muss den Dingen
die eigene stille ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann. Alles ist auszutragen und dann zu gebären.
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht
ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch.
Aber er kommt zu den Geduldigen,
die da sind als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit.
Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen
und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben
wie verschlossene Stuben und Bücher, die in einer anderen Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Frage lebt,
lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.
Rainer Maria Rilke
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