Ein Gesicht voller Leid,
voll Trauer und Schmerz,
voll bitterer Scham,
erschrocken darüber,
was Menschen einander antun können.
Mit geschlossenen Augen
sieht er viel tiefer,
der Engel von Güstrow
sieht hinein in Abgründe hinein,
und stürzt dennoch
nicht ab.
Er bleibt in der Schwebe.
Hier in der Kirche
zwischen Erde und Himmel
ist aufgehoben,
was er zu tragen hat.
Im Dom wollte Ernst Barlach ihn haben.
Nur hier konnte er aus seinem
Ehrenmal für die Gefallenen
der mahnende Engel
für die Lebenden werden:
Nie wieder Krieg, niemals Gewalt,
versöhnende Liebe sei euer Ziel.
Aber die Botschaft des Engels
gefiel längst nicht allen:
Er ist nicht heroisch,
denn er wehrt sich ja nicht.
Er erträgt die Schmerzen.
Er trauert, aber er verurteilt nicht.
Er ist auf eine
so stille Weise stark,
daß viele es nicht aushalten konnten.
Darum spotteten und höhnten
sie über ihn,
weigerten sich,
ihn einen Engel zu nennen.
So stürmten die Nazis den Dom
und schlugen den Engel herunter:
"In einer deutschen Kirche",
sagen sie dreist,
"habe 'entartete Kunst' keinen Platz."
Sie schmolzen ihn ein
und machten aus ihm
Munition
für den Krieg
gegen den der Engel doch mahnte.
Aber er wurde gerettet.
Heimlich wurde vom Gipsmodell
ein neuer Engel gegossen.
Und die Bosheit der Menschen
konnte nicht hindern,
daß er auferstand
in einen Engel im Osten – in Güstrow
und einen Engel im Westen – in Köln.
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,
der Engel ist
mehr als ein gerettetes Kunstwerk.
Schwebend zwischen Himmel
und Erde mahnt er,
verkündet,
daß Liebe, daß Versöhnung,
daß Gottest Kraft
nicht zu zerstören ist.
Darum bitten die Engel
in Ost und West:
Laßt euch versöhnen!
Versöhnt euch.
Ballt nicht die Fäuste
über all der Bosheit, über
Verleumdung und Ratlosigkeit.
Nur die versöhnende Liebe
bringt uns zusammen.
Sie allein macht es möglich,
Schuld und Verstrickung
vergangener Jahre
in Ost und West offen zu legen,
abzubauen und zu begraben.
Ich stehe hier vor dem Engel in Köln und
denke dabei an den Engel in Güstrow.
Beide Engel ermahnen,
ermutigen uns –
je nach unserem Standort
in Ost und in West,
verschieden und dennoch gleich.
Und sie erinnern uns an das Psalmwort:
Gott hat seinen Engeln befohlen,
daß sie dich behüten
auf all deinen Wegen.
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