In der Schwebe / gefasst

Der Schwebende (Foto: Morrien / Güstrow 2018)

 

Renate Kirsch

 

Ein Gesicht voller Leid,

voll Trauer und Schmerz,

voll bitterer Scham,

erschrocken darüber,

was Menschen einander antun können.

 

Mit geschlossenen Augen

sieht er viel tiefer,

der Engel von Güstrow

sieht hinein in Abgründe hinein,

und stürzt dennoch

nicht ab.

 

Er bleibt in der Schwebe.

Hier in der Kirche

zwischen Erde und Himmel

ist aufgehoben,

was er zu tragen hat.

Im Dom wollte Ernst Barlach ihn haben.

Nur hier konnte er aus seinem

Ehrenmal für die Gefallenen

der mahnende Engel

für die Lebenden werden:

Nie wieder Krieg, niemals Gewalt,

versöhnende Liebe sei euer Ziel.

 

Aber die Botschaft des Engels

gefiel längst nicht allen:

Er ist nicht heroisch,

denn er wehrt sich ja nicht.

Er erträgt die Schmerzen.

Er trauert, aber er verurteilt nicht.

 

Er ist auf eine

so stille Weise stark,

daß viele es nicht aushalten konnten.

 

Darum spotteten und höhnten

sie über ihn,

weigerten sich,

ihn einen Engel zu nennen.

So stürmten die Nazis den Dom

und schlugen den Engel herunter:

"In einer deutschen Kirche",

sagen sie dreist,

"habe 'entartete Kunst' keinen Platz."

Sie schmolzen ihn ein

und machten aus ihm

Munition

für den Krieg

gegen den der Engel doch mahnte.

 

Aber er wurde gerettet.

Heimlich wurde vom Gipsmodell

ein neuer Engel gegossen.

Und die Bosheit der Menschen

konnte nicht hindern,

daß er auferstand

in einen Engel im Osten – in Güstrow

und einen Engel im Westen – in Köln.

 

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,

der Engel ist

mehr als ein gerettetes Kunstwerk.

Schwebend zwischen Himmel

und Erde mahnt er,

verkündet,

daß Liebe, daß Versöhnung,

daß Gottest Kraft

nicht zu zerstören ist.

 

Darum bitten die Engel

in Ost und West:

Laßt euch versöhnen!

Versöhnt euch.

Ballt nicht die Fäuste

über all der Bosheit, über

Verleumdung und Ratlosigkeit.

Nur die versöhnende Liebe

bringt uns zusammen.

Sie allein macht es möglich,

Schuld und Verstrickung

vergangener Jahre

in Ost und West offen zu legen,

abzubauen und zu begraben.

Ich stehe hier vor dem Engel in Köln und

denke dabei an den Engel in Güstrow.

 

Beide Engel ermahnen,

ermutigen uns –

je nach unserem Standort

in Ost und in West,

verschieden und dennoch gleich.

Und sie erinnern uns an das Psalmwort:

Gott hat seinen Engeln befohlen,

daß sie dich behüten

auf all deinen Wegen.

 

 

 

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