Queerfeministische Perspektive auf das Riesenei

Aufgehoben im Oval. (Foto: #Morrien / Germany 2020)

Das Ei aus queer-feministischer Perspektive

Birgitt Morriens aktivistisches Kunstprojekt repräsentiert so vieles. Die Interpretation hängt, wie immer, von der Perspektive der beobachtenden Person ab. Als ich mir ein paar Kommentare zum Ei durchlas, fiel mir auf, wie oft von dem Ei als Symbol der weiblichen schöpferischen Kraft geschrieben wurde – die Assoziation ist oft eine biologistische, die mir als queere Feministin[1] aufstößt, denn:

Nicht nur Frauen können gebären und nicht alle Frauen können es. Weiblichkeit auf Biologie zu beschränken ist aus meiner Sicht nicht nur kurzsichtig, es ist gefährlich. Darin spiegelt sich die Anschauung von gynozentristischen Differenztheoretiker*innen, die weibliche Identität in der Gebärfähigkeit einer Person sehen.

Eine Theorie, die der Tradition einer, Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen, westlichen Anschauung von Geschlecht als binär und naturalisiert folgt.[2] Warum diese Idee gefährlich ist und was meine Gedanken zum Ei sind, werde ich nach einem geschichtlichen Exkurs darlegen.

Das feministische Spektrum

Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass es nicht einen Feminismus gibt. Das feministische Spektrum ist so weitreichend, dass manche Strömungen nicht mal eine ähnliche Basis haben. Besonders in der sogenannten zweiten Welle der feministischen Bewegung um 1968 differenzierten sich Feminismen aus. Oft wird grundsätzlich zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus unterschieden, wobei beide von einer binären Geschlechterordnung (männlich / weiblich) ausgehen, die als längst überholt gilt.[3]

In der zweiten Welle verschaffte sich der radikale Feminismus Gehör, welcher die Diskriminierung der Frau durch das Patriarchat in den Mittelpunkt seiner Anschauung stellte. Radikale Feminist*innen strebten die Aufwertung der Rolle der Frau in der Gesellschaft an. Klingt zunächst nach einem sinnvollen Bestreben. Das Patriarchat bezeichneten sie als „Männerherrschaft“, ausgeübt durch Sexualpolitik.

Innerhalb dieser Strömung unterschieden sich die Vorstellungen zur Erreichung der Gleichstellung enorm. Wo sich einige radikale Feminist*innen auf das Aufbrechen von Geschlechterrollen, insbesondere der Erwartungen der Gesellschaft an Frauen, konzentrierten, wollten andere vermeintlich weibliche Attribute positiv neu konnotieren. Sie stellten das Wiederaneignen von „weiblicher“ Identität in den Fokus.

So sorgte der Differenzfeminismus zum Beispiel für einen rückwärtsgewandten Ansatz, der den Unterschied zwischen Männern und Frauen als positiv hervorheben will und anthropologisch begründet. Als weiblich bezeichnete Eigenschaften wie Fürsorglichkeit oder einfühlsame Kommunikation werden als natürlich angesehen und Weiblichkeit ist demzufolge auch immer biologisch determiniert.[4] Der Meinung radikaler Differenzfeminist*innen zufolge müsse die Rolle der Frau in der Gesellschaft lediglich aufgewertet werden, die Rolle an sich scheint ihnen jedoch zu passen.

Und genau hier regt sich sehr deutlich mein Widerspruch. Der Fokus einiger Strömungen der zweiten Welle, der sich bis heute noch viele Feminist*innen zugehörig fühlen, liegt bei Geschlechtsorganen. Aus meiner Sicht verfehlt dieser Fokus die eigentliche Bedeutung des feministischen Kampfes. In der Wissenschaft waren bereits vor der zweiten Welle Geschlechtszugehörigkeit und besonders Geschlechterrollen nicht (nur) Thema der Biologie, sondern auch omnipräsent in der Soziologie. Wie Simone de Beauvoir so schön sagte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“[5]

Queer Theories

Zum einen ist eine naturalisierte Idee der Geschlechterordnung, wie bereits erwähnt, längst überholt. Innerhalb des feministischen Diskurses ist bis heute die De-/Konstruktion von Geschlecht das vermutlich umstrittenste Thema. Denn gegenüber der biologistischen Auffassung von Geschlecht stehen die queer[6] theories. Bereits in den 1980er-Jahren entstanden Theorien zur Dekonstruktion von Heteronormativität[7], also dem Dualismus der Geschlechter sowie zum Vorantreiben des Aufbrechens von traditionellen Geschlechterrollen: der queere Feminismus.[8]

Schon vor Jahrzehnten wurde hinterfragt: Was macht eine Frau oder einen Mann wirklich aus? Sicher nicht die Geschlechtsorgane, die Stimme, der Körperbau oder die Hormone. Und was ist mit all den Personen, die nicht in das binäre System passen? Was ist mit Intersex- oder nichtbinären Personen? Das alles sind Fragen, die nicht ignoriert werden dürfen, und die Beschäftigung mit diesen ist nicht weniger wichtig als die Gleichstellung von Frau und Mann. Der feministische Kampf muss alle vom Patriarchat unterdrückten Personen miteinschließen!

Da die queer theory mittlerweile sehr viel ausgearbeiteter und fundierter erscheint als radikal differenzfeministische Ideen, ergibt sich aus dieser Sicht kein Grund, Gebärfähigkeit noch mit Frauen zu assoziieren. Überhaupt irgendwelche bestimmten Eigenschaften an ein Geschlecht zu koppeln. Denn traditionelle Rollenbilder und Symbole aufrechtzuerhalten, ist meiner Meinung nach kein feministisches oder fortschrittliches Anliegen. Und dafür steht das Ei doch: für Fortschritt und die Abwendung von patriarchalen, veralteten Strukturen.

Deshalb liegt es an jeder Person, aber besonders an jenen, die sich Feminist*innen nennen, sich mit den eigenen überholten Vorstellungen auseinanderzusetzen. So gut es auch gemeint ist von Kommentator*innen dieses Projekts, zu schreiben, dass das Ei für weibliche, neue schöpferische Kraft – im Gegensatz zum altertümlichen, von Männern beherrschten Dom – stehen soll, richtet diese Auffassung über das Ei einen für mich vermeidbaren Schaden an. Nicht nur im Sinne des Fortschritts, in dem wir doch traditionelle Rollenbilder aufbrechen wollen, um Gleichstellung von Frauen zu erreichen, sondern auch durch das Ausblenden von transgender[9] Personen, was ein Problem darstellt, das ohnehin tief verankert ist in den Strukturen unserer Gesellschaft.

Eine trans* Frau kann keine Kinder bekommen, das macht sie allerdings nicht weniger zur Frau. Manche trans* Männer können Kinder kriegen. Und das macht sie nicht weniger zum Mann. Nichtbinäre Personen können auch manchmal Kinder zur Welt bringen. Menschen mit Uterus können gebären. Die Gebärfähigkeit auf Frauen zu beschränken ist transfeindlich. Und es lenkt von allen Errungenschaften der soziologischen Geschlechterforschung der letzten 50 Jahre ab.

Bereits in den 1970er-Jahren wurde die Unterscheidung zwischen sex (deutsch: „biologisches Geschlecht“) und gender (deutsch: „kulturelles“ oder auch „soziales Geschlecht“) festgelegt.[10] Diese Unterteilung hat damals viel Klarheit geschaffen und die Stigmatisierung von trans* Personen als „psychisch krank“ etwas gemildert.

Allerdings haben es sich queere Feminist*innen zur Aufgabe gemacht, dieses Konstrukt erneut zu hinterfragen, da auch diese Vorgehensweise die Realität von trans* Personen nicht wirklich widerspiegelt. Und genau das macht den queeren und trans* Feminismus so revolutionär und fortschrittlich. Es wird nie aufgehört zu diskutieren und (konstruktiv) zu kritisieren sowie die eigenen Theorien infrage zu stellen. Somit wurde die klassische sex/gender-Unterteilung aufgelöst, denn laut Judith Butler ist auch sex nicht naturgegeben, sondern sozial konzipiert.[11]

Wofür das Ei steht

Das Ei als Gebärmutter zu sehen ist allerdings ein schöner, organischer Gedanke, den ich nachvollziehen kann und auch gar nicht ablehnen möchte. Neue Ideen, neues Leben und Fortschritt wachsen in diesem heran. Deshalb kritisiere ich überhaupt nicht die Vorstellung davon an sich – sondern rufe dazu auf, sich selbst Gedanken zu machen, inwiefern oder warum die eigene Interpretation davon auf der Assoziation von Weiblichkeit und Gebärfähigkeit beruht. Denn dafür steht dieses Ei eigentlich nicht.

In diesem Ei wachsen keine veralteten Strukturen und Anschauungen heran, es steht als Fortschritt den altmodischen Idealen gegenüber. Auch veralteten Rollenbildern, die noch in einigen, auch noch so gebildeten oder belesenen, Köpfen feststecken. Dieses Ei brütet auch einen neuen Feminismus aus, der manche vielleicht zunächst überfordert, aber eine Möglichkeit bieten könnte, alle Personen in unserem Kampf gegen das Patriarchat einzuschließen.

Es ist doch ein schöner Gedanke, wenn wir, in einer privilegierten Gesellschaft wie unserer, so viel Empathie aufbringen könnten, um andere Lebensrealitäten nicht zu übersehen, wie es so oft mit trans* Personen passiert. Mein Wunsch ist es, solidarischer mit allen marginalisierten Gruppen, die unter dem Patriarchat leiden, zu handeln. Das schließt auch das Kommentieren eines Kunstprojektes, das so viel Aussagekraft hat, ein.

[1] Zum Begriff queerer Feminismus siehe weiter unten.

[2] Vgl. Kerner, I.: Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Perspektiven für einen neuen Feminismus. In: gender…politik…online. Juli 2007, S. 1–24, S. 7–10. https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/KernerKonstruktion_und_Dekonstruktion/kerner.pdf

[3] Vgl. Kerner, I.: Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Perspektiven für einen neuen Feminismus. In: gender…politik…online. Juli 2007, S. 1–24. https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/KernerKonstruktion_und_Dekonstruktion/kerner.pdf

[4] Vgl. Kusters, F.: Mann – Frau: die konstitutive Differenz der Geschlechterforschung. In: Kortendiek, B. et al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden 2019, S. 4–11, S. 5, und Kerner, I.: Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Perspektiven für einen neuen Feminismus, S. 8 f.

[5] Beauvoir, S. de: Das andere Geschlecht. Hamburg 1951, S. 265.

[6] Der Begriff queer wurde einst als Beleidigung für alle Personen, die von der gesellschaftlichen Norm abwichen, verwendet. In der queeren Bewegung ab ca. 1980 haben sich die Aktivist*innen das Wort wieder zu eigen gemacht und positiv konnotiert. Vgl. Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg: Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Berlin 2021, S. 8.

[7] „Als gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das Geschlecht und Sexualität normiert, beschreibt Heteronormativität ein binäres Geschlechtersystem, das ausschließlich zwei Geschlechter akzeptiert. Diese stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, das Männlichkeit über Weiblichkeit stellt. Gleichzeitig schreibt Heteronormativität eine Übereinstimmung des biologischen und psychosozialen Geschlechts und ein auf das jeweilige Gegengeschlecht ausgerichtetes (heterosexuelles) Begehren vor. Dies führt zur Ausgrenzung und Sanktionierung von Personen, die dieser Ordnung nicht entsprechen. Dazu gehören z. B. Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*.“ Aus: Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg: Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Berlin 2021, S. 5.

[8] Vgl. Woltersdorff, V.: Heteronormativitätskritik: ein Konzept zur kritischen Erforschung der Normalisierung von Geschlecht und Sexualität. In: Kortendiek, B. et al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden 2019, S. 323–330, S. 324.

[9] transgender (Frau / Mann) ist die Bezeichnung für Personen, bei denen das gelebte Geschlecht nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen übereinstimmt. Trans ist ein Überbegriff für trans Frauen und Männer, aber auch für nichtbinäre Personen. Vgl. Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg: Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Berlin 2021, S. 11.

[10] Vgl. Hussain-Abdul, S.: Geschlecht und Gender. https://erwachsenenbildung.at/themen/gender_mainstreaming/theoretische_hintergruende/geschlecht_und_gender.php

[11] Vgl. Woltersdorff, V.: Heteronormativitätskritik: ein Konzept zur kritischen Erforschung der Normalisierung von Geschlecht und Sexualität. In: Kortendiek, B. et al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden 2019, S. 323–330, S. 324.

 

Die Autorin
Selin Kurman, 23, Soziologie- und Politikstudentin, die sich mit gesellschaftskritischen Themen auseinandersetzt – meistens mit feministischen, antirassistischen, queeren oder antiklassistischen, wobei sie möglichst intersektional arbeitet. Als queere Feministin mit Migrationshintergrund kann sie Kritik an gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen mit persönlichen Erfahrungen unterstützen.

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