Vom Verschwinden in digitalen Zeiten

Transformation: Die Gesetze des Wandels (Skulptur von Martha Sturdy)

Das tieferliegende Wesen der Dinge offenbart sich uns oft erst, wenn wir im Begriff sind, diese zu verlieren. Besonders jedoch gilt das für Menschen, die uns über die Zeit wie selbstverständlich umgeben. Verlassen sie uns, erkennen wir ihren für uns einzigartigen Wert ganz neu. Doch erleben auch die da gehen (müssen) sich selbst in dieser Phase des Abschieds unter vollkommen neuen Vorzeichen, zumal in Zeiten digitaler Transformation.

 

Sterben unter neuen Vorzeichen

Zwar war er mit Mitte sechzig noch nicht wirklich darauf eingestellt. Doch hatte er alle Vorbereitungen für den finalen Abgang, wie er das kommende Ende lakonisch nannte, längst getroffen. Die Nachfolgeregelung. Das Erbe. Wenn es so weit wäre, wollte er keine unnötige Arbeit machen.

Wie die Vögel des Himmels, sagte er sich, die fliegen, fressen, feiern und dann einfach runterfallen. Doch bis dahin singen sie ihr Lied. Keine Sorge um eine Zukunft hindert sie daran, sich ganz der Freude am Leben zu überlassen, dem ewigen Jetzt.

Die Realität — Es schaffen müssen

Funktioniert hatte er immer gut, das vor allem, wenn er es sich genau betrachtete. Hatte sich angestrengt, um anerkannt und gemocht zu werden, auch das. Etwas Besonderes darstellen müssen, um bewundert zu werden, beneidet. Welch ein Kraftakt das gewesen war! Eine mächtige Triebfeder.

Doch da waren auch die leichteren Zeiten, verbracht mit Familie und Freunden. Und die Affären, natürlich inoffiziell, wenn auch wesentlich als heimliche Genugtuung. Wie es ihm gelungen war, immer wieder neu zu erobern, immer wieder zu gewinnen. Frauen und Firmen.

Er genoss die Bewunderung, das Ansehen, die Macht. Davon war er abhängig, das ahnte er schon früh, mehr als ihm lieb war. Abhängig von dem Gefühl der Überlegenheit, die ihm Kontrolle garantierte.

Zwar hatte er sich dafür immer selbst verachtet – und auch jene, die sich ihm für seinen Geschmack mitunter etwas zu willfährig auslieferten, ihm an den Lippen hingen. So seine Sprachgewalt bestaunten und sich seiner bisweilen sanftmütig anmutenden Dominanz ergaben. Und die sich in diesem unseligen Handel bereitwillig zum Opfer machten oder dazu gemacht wurden. Ausgehalten, belohnt nur mit der Aussicht auf Teilhabe an seinem Status auf Stundenbasis.

Da, wo er nun stand, spürte er nur noch den Wunsch, Gleicher unter Gleichen zu sein. Es blieb ihm ohnehin keine andere Wahl. Die Kräfte ließen im fortschreitenden Krankheitsverlauf zusehends nach. Das allein schon zwang ihn zur Wende.

Doch würde er die Chuzpe haben, sich in dieser Schwäche zu zeigen? Würde er es wagen, sich auf Augenhöhe oder gar unter umgekehrten Vorzeichen zu treffen? Froh darüber, weiterhin auch von Jüngeren und Gesunden besucht zu werden? Das wert zu sein, obwohl aller Attribute beraubt, die seine frühere Anziehung auszumachen schienen?

Die Rêverität* — Beschenkt werden im Traum

Schon vor vielen Jahren war jener Schäferhund erstmalig zu ihm gekommen. Ein wunderbares Tier, das zu sehen ein solches Glücksgefühl in ihm hervorgerufen hatte, dass er sich noch tagelang in der Erinnerung daran zu baden gewusst hatte.

Auch jetzt, er musste bloß daran denken und ein tiefes Wohlsein überkam ihn. Dieses Wesen in seiner Nähe rief eine bis dahin ungekannte Freude in ihm wach, ja, eher noch eine Glückseligkeit. Ein Wort, das nun nicht seinem bisherigen Vokabular entsprach. Doch hier passte es. Hier war es stimmig, und es fiel ihm leicht, es gelten zu lassen. Endlich, dachte er, endlich erlaube ich diesem mich beglückenden Traumwesen auch im Wachen, den ihm wirklich gebührenden Platz in meinem Leben einzunehmen.

Er widerstand jedoch dem Wunsch, sich einen solchen Gefährten jetzt noch tatsächlich zur Seite zu stellen. Dafür würde die ihm verbleibende Zeit nicht reichen. Doch spürte er, dass mit der Selbsterlaubnis die Qualitäten dieses Wesens ihn auch so zu erfüllen begannen. Ein Kribbeln zeigte es ihm an, das ihn wie zuvor nur im Traum jetzt merklich zu beleben verstand.

In diesem Augenblick erkannte er in dem Tier sein Totem. Und erstmalig begrüßte er dieses Wesen ganz offiziell im Tagwachen, jetzt in vollkommen bejahender Weise: Sein Todesschrei, müsste er diesen ausstoßen, würde von dessen lautem Gebell begleitet werden. Dieser Gedanke war ihm ein tiefer Trost. Er würde nicht allein sein, sollte es am Ende turbulent zugehen. Wo seine Lieben zurückblieben, würde sein Totem ihm den Weg weisen. So viel war sicher, auch wenn er nicht hätte erklären können, worin diese absolute Gewissheit anders gründete außer in einem Gefühl.

Und so beschloss er, sich einen Talisman zuzulegen, nach eigenen Entwürfen, den zu fertigen er bei einer von ihm sehr geschätzten Goldschmiedin in Auftrag geben würde. Und er wusste, dass dieser Glücksbringer mit ihm begraben werden musste. Als Geleitschutz gewissermaßen, für das bevorstehende Abenteuer.

Was sonst war es als der bevorstehende Aufbruch in eine ihm bisher vollkommen unbekannte Welt? Genau das entsprach doch dem eigentlichen Wesen des Abenteurers, vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen, nicht wissend, wie und wohin, nur den Eingebungen aus dem tiefsten Innern zuhorchend in der Hoffnung, dass sie gut zu lenken vermögen.

Die Virtualität —- Sich selbst verstecken

Er schloss seinen Laptop, jenes Schreibutensil mit virtuellem Zugang. Er würde hier nicht länger mitspielen. Es fehlte ihm jede Kraft dazu, sich wie auch immer in Szene zu setzen. Sich anders zu geben oder zu zeigen, als er nun einmal war. Ein alt gewordener, kranker Mann, dem die Haare ausfielen.

Doch ahnte er, dass das Versteckspiel viel früher begonnen hatte, lange vor seiner virtuellen Präsenz. Nicht erst jetzt, da er seine Glatze vor der Welt zu verbergen trachtete. Schon, als er sich noch mit vollem Haar und Dreitagebart der Welt elegant zu präsentieren wusste.

Niemals hätte er es gewagt, sich mit Schäferhund zu zeigen. Eher vielleicht noch mit Windhund oder mit einer Dogge womöglich! Unwillkürlich musste er über sich selbst lachen, als er sich vor seinem inneren Auge sah, wie er in seinem Chevrolet-Cabrio mit entsprechendem Vierbeiner auf dem Beifahrersitz vorfuhr. Ja, wenn er ehrlich war, nur so hätte es sein können, das Bild von sich mit Vierbeiner.

Würde er aber den Mut haben, im Endspurt jene Idee zu verfolgen, die ihm kürzlich jäh durch den Kopf geschossen war? Jeden Tag von sich ein Selbstporträt zu fotografieren, in Schwarz-Weiß, das entsprach seiner künstlerischen Vorliebe für Kontraste. Um diese als Serie posthum von einem Getreuen veröffentlichen zu lassen. Auch online, versteht sich.

Das Bild von sich am Ende zu vervollständigen, sich ganz zu zeigen, eben auch im Vergehen. Seinen Beitrag zu leisten dazu, dieser ausgeblendeten Lebenswirklichkeit in jener virtuellen Dimension ihren gebührenden Platz zu geben. Der Schwäche die Würde zurückzugeben. Als notwendigem Teil eines Zyklus, den wir das Leben nennen.

Würde er den Mut haben, das zu verfügen? Darüber würde er nachdenken …

 

*rêve, frz. „Traum“. Rêverität, meine Wortschöpfung für Traumwelt bzw. Traumwirklichkeit. Da wir ein Drittel unseres Lebens im Schlaf verbringen, erscheint mir die Erlebniswelt des Traums eine durchaus beachtenswerte Größe, qualitativ wie quantitativ.

 

Mehr Informationen:

Sinnstiftende Karrieren: Ein halbes Hundert Case-Studies & Stories aus erster Hand. Birgitt E. Morrien und das Coaching mit DreamGuidance

 

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Dipl. rer. com. Birgitt E. Morrien, M.Sc./USA
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