Ein junger Kaufmann entdeckt auf einer unfreiwilligen Wanderung die rettenden Tugenden des Eigensinns. Eine unterhaltsame Lektion mit überraschender Wendung. Erzählt für alle Lernenden auf dem Weg zu noch mehr Vertrauen ins Leben.
Seit Tagen war Manolis unterwegs, bergan und bergab. Die langen Dornen der Büsche kratzen seine Beine und Arme auf, Kletten verfingen sich in seinen Haaren. Nicht nur einmal hatte er sich an den knorrigen Ästen der niedrigen Olivenbäume gestoßen. Seine Füße schmerzten von den harten Steinquadern der kalderimi, die sich durch die Landschaft wanden: uralte Steinwege, die zu Quellen führten, zu Hainenund Feldern – vor allem aber von einem Dorf zum nächsten.Und wieder zum nächsten.
Manolis aber war kein Kind der Dörfer. Er kam aus der Stadt. Er war kein Bauer, kein Fuhrmann und kein Bote, er war Lehrling eines Kaufmanns. Er schrieb und er rechnete. Und diesen Auftrag, den er mit seinen Füßen statt seinem Kopf erfüllen sollte, betrachtete er als eine Art Strafe.
Sein Meister, der Besitzer eines Stoffgeschäfts, hatte ihn dennoch auf die Reise geschickt. „Bring dieses Tuch nach Milea, in das Dorf unter dem berühmten Kloster Panayía Yiátrissa“, hatte der Kaufmann gesagt: „Handle einen guten Preis aus, kaufe Öl mit dem Geld und komm zurück. Mein Glaube ist, dass dir diese Reise gut tun wird!“
Stoisch hatte Manolis genickt und erst wütend geschnaubt, als ihn niemand mehr sehen konnte, außer dem grauen Esel, der ihn begleitete und die Ware sowie seinen Proviant trug.
Der Weg hatte die flache Ebene der Stadt verlassen und war dann steil angestiegen. Das Meer zu seiner Rechten war verschwunden, der Weg führte weit entfernt von der felsigen Küste hinauf ins bergige Hinterland.
Der Esel ging gemächlich und ließ sich nicht zu Eile antreiben. Versuchte der Lehrling es dennoch, wurde das Tier störrisch. Wenn es an engen Stellen zögerte, schlug Manolis es mit einem Stock, den er am Wegrand gefunden hatte. Doch das Tier sah ihn nur vorwurfsvoll aus großen, schwarzen Augen an. So ging es langsam vorwärts, die Mittagssonne brannte und an einem steilen Wegstück stoppte der Esel erneut.
„Lauf, du blödes Vieh!“, schimpfte der junge Lehrling und wollte gerade wieder den Stock heben, als sich unter seinen Füßen plötzlich ein Stein aus der uralten Straße löste. Um ein Haar wäre Manolis in die steile Schlucht gestürzt, in letzter Sekunde fand er Halt – ausgerechnet am Bein des Esels, der nicht gescheut hatte, sondern ungerührt stehen geblieben war.
Mühsam und schwer atmend zog Manolis sich wieder auf den Weg, wollte sich aufrappeln, doch ein stechender Schmerz fuhr ihm in den linken Fuß. Er setzte sich. Er verfluchte seinen Meister – und damit das Schicksal: „Sieh doch, was hier passiert! Ich kann nur noch humpeln!“
Die Wut verflog, es blieb die schmerzhafte Einsicht: Jetzt zurückzugehen würde vermutlich länger dauern, als weiter zum Ziel zu marschieren. Manolis fand den Stock, mit dem er den Esel geschlagen hatte und richtete sich langsam auf. Er eignete sich gut als Stütze.
Langsam und unsicher setze sich der Lehrling in Bewegung, der Esel trottete mitnichtssagendem Blick hinter ihm her. Das Vorankommen war mühselig, immer wieder blieb der Stock zwischen den Steinquadern der Steinstraße stecken. Der Fuß schmerzte dumpf und oft musste Manolis sich ausruhen, was den Esel nicht störte. „Ja, guck du nur!“ sagt Manolis halblaut: „Du freust dich wahrscheinlich, dass ich jetzt auch so eselhaftherumlaufe!“
Nachdem die beiden einige Stunden gewandert waren, merkte Manolis, dass sich die Landschaft um ihn herum veränderte. Oder war sie die ganze Zeit schon so schön gewesen und er hatte sie nur nicht richtig wahrgenommen? Die dornigen Büsche an Straßenrand waren ein gelb leuchtendes Blütenmeer, die Blätter der Olivenbäume strahlten in einem hellen Grün. Mandelbäume blühten weiß-rosa und auch die Gräser in den Hainen waren von Blumen aller Farben übersäht.
Tief atmete er ein, roch die würzigen Kräuter der Berge. In ihm reifte ein neues Vertrauen, vielleicht auch ein neuer Stolz. Er würde die Hindernisse überwinden und den Auftrag zu Ende bringen. Er würde nicht jammernd und mit leeren Händen zurückkehren. Trotz des schmerzenden Fußes fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr.
In diesem Moment erreichte der Weg eine unauffällige Bergkuppe. Manolis stieg hinauf und hielt gebannt inne. Vor ihm war der Blick frei auf eine wunderschöne Küste, die sich in geschwungenen Buchten bis weit in die Ferne zog. Die Sonne ging über dem Meer unter, das Wasser glänzte golden. Gischt lag in der Luft und verhüllte alles mit einem weichen Schleier.
Im Landesinneren erhoben sich steil die dicht bewaldeten Berge, an denen der Blick emporwanderte, bis zu schneebedeckten Gipfeln. Auf einem vorgelagerten Bergrücken sah Manolis den gedrungenen Steinbau des Klosters. Im Dorf darunter lag das Ziel seiner Reise. Doch er hatte es nicht mehr eilig, dort anzukommen. Er sah den Esel an, der neben ihm hinunter in die Bucht blickte und sagte: „Ich denke, wir werden in Zukunft öfter diesen Weg gehen“.
Der Autor: Ein Coachee, in Hamburg ansässiger Journalist und Moderator mit schriftstellerischer Begabung, lotet in dieser Geschichte die Möglichkeiten des Unerwarteten aus, das ihm auf seiner Suche noch begegnen könnte. Manchmal stelle ich in meinen Beratungsprozessen kreative Aufgaben, die dazu dienen, den Zugang zum Intuitiven freizulegen und damit Denkblockaden aufzulösen.
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