Ruhig zu bleiben fällt in Zeiten der Panikmache angesichts des Coronavirus schwer. Warum wir es trotzdem tun sollten, erklärt Barbara Plagg, Autorin, Dozentin für Hygiene, Prävention und Sozialmedizin an der Uni Bozen.
Pandemie der Panik
Die gute Nachricht vorneweg: Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie nicht an Corona sterben. Die schlechte hinterher: Sterben werden Sie trotzdem. Ich kann Ihnen sogar sagen, woran: Vermutlich an einer kardiovaskulären Erkrankung – zumindest statistisch gesehen. An Viren zu sterben ist voll Achtziger, der moderne Mitteleuropäer stirbt vorwiegend an seinen schlechten Gewohnheiten, die ihm irgendwann die Gefäße dichtmachen. Und jetzt kommt Corona und trifft uns da, wo es am meisten weh tut: In unserem bedingungslosen Fortschrittsglauben, dass wir alles im Griff und für jedes Problem eine Lösung haben.
Tatsächlich haben wir aber bemerkenswert wenig im Griff, den Tod zum Beispiel nicht und Krankheiten leider auch nur begrenzt. Und die Verbreitung von COVID-19 auch nicht (mehr) – denn dafür sind inzwischen zu viele betroffen und unsere Welt zu sehr globalisiert. Damit macht uns Corona weniger wegen seiner vermuteten Letalität*, sondern wegen des gefühlten Kontrollverlustes Angst: Da kommt etwas, worauf wir nicht vorbereitet sind. Da kommt etwas, das wir noch nicht kennen und wogegen wir (noch) kein Mittel haben. Da kommt etwas, von dem wir nicht wissen, wann es endlich wieder gehen wird und wie viele es tatsächlich mitnehmen wird.
Denn auch wenn das Gerücht diesbezüglich nicht totzukriegen ist: Corona ist tödlicher als die Influenza. Die genaue Letalität von COVID-19 werden wir aber erst in einiger Zeit wissen, nämlich dann, wenn alles vorbei ist. Im Moment – aber diese Zahl wird sich wie gesagt verändern – beträgt sie außerhalb von Wuhan vermutlich irgendetwas zwischen ein und vier Prozent mit starken regionalen Schwankungen. Übersetzt bedeutet das: Es wird nicht die Apokalypse, ernst nehmen muss man es aber schon. Denn es wird zwar der größte Teil der Infizierten schadlos davonkommen, aber ein kleiner Prozentsatz wird nicht überleben. Bei der spanischen Grippe, mit der sich unsere Vorfahren um 1918 herumschlagen mussten, vermutet man beispielsweise eine Letalität zwischen zwei und drei Prozent. Und wie bei der spanischen Grippe liegt die Gefährlichkeit von COVID-19 nicht darin, dass es einen Einzelnen umhaut, sondern dass es viele gleichzeitig trifft – und dass deswegen unsere Gesellschaft erst ins Wanken und dann ins Chaos gerät, weil zum Beispiel Versorgungskapazitäten nicht ausreichen, Krankenhausbetten ausgelastet und Handelswege blockiert sind.
Realitätscheck gegen Hysterie
Epi- und Pandemien sind weniger eine Herausforderung für den Einzelnen, als für uns als Gesellschaft: Wie gehen wir mit einer plötzlichen Bedrohung um? Oszillieren wir zwischen Panik und Bagatellisieren? Gehen wir noch zur Arbeit oder bleiben wir schon zuhause, um literweise Desinfektionsmittel herzustellen? Hamstern wir Haltbares und wechseln wir die Straßenseite, wenn unser asiatischer Nachbar kommt? Halten wir uns an sachliche Hygieneregeln oder alles für chinesische Propaganda?
Nun will nachvollziehbarerweise keiner an einem Virus sterben. Aber die Wahrheit ist: Menschen sterben aus den blödesten Gründen. Sie werden überfahren, fallen angeschnallt vom Himmel oder ungesichert von den Bergen und werden mit dem Küchenmesser vom Ex-Mann erstochen. Verzeihen Sie bitte diese unschöne Aufzählung, aber tatsächlich ist etwa das Risiko, dass ich oder meine Freundinnen in meinem Alter in Italien an Corona sterben viel geringer als das Risiko, an unserem Geschlecht zu sterben: Frauen werden hierzulande ja alle 72 Stunden ermordet, deswegen wurde allerdings noch nie ein Fussballspiel abgesagt. Und: Ich halte eigentlich nicht viel von Es-gibt-immer-noch-Schlimmeres-Vergleichen, aber ein kleiner Realitätscheck hilft gegen kollektive Hysterie. Deswegen lassen Sie mich fortfahren mit Gevatter Tod’s grotesken Gepflogenheiten: Menschen ertrinken im Mittelmeer, erfrieren in Flüchtingscamps in Griechenland, oder verhungern in der zentralafrikanischen Republik. Sie werden erschossen, zerbombt und zermetzelt weil sie das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort Mensch zu sein. Die Sadisten und die Nekrophilen brachten und bringen unserer Welt so viel Tod, wie es die spanische Grippe, Corona und HIV zusammen nie schaffen werden. An Viren wollen wir zwar keinesfalls sterben, wegen Religion, Staat, Überzeugungen, Rohstoffen, Ehre, Geschlecht und Hautfarbe wird aber weiterhin fleißig gestorben. Und vor allem wegen Hunger, der aufgrund des Klimawandels erstmals seit 2000 wieder schlimmer wird: An Corona sind bisher 2.933 (Stand 29.02.2020 und es liegt leider in der Natur dieser Sache, dass es noch mehr werden) Menschen gestorben, an Hunger sterben jedes Jahr geschätzte neun Millionen Menschen, davon rund 3,1 Millionen Kinder.
Corona macht die Panik, die uns Mikroplastik in der Luft, der Hunger in der Welt und die Kriege nebenan schon längst hätten machen sollen.
Aber keiner stampft deswegen Krankenhäuser über Nacht aus dem Boden, sperrt Städte ab, schließt Schulen, stoppt Züge und schickt das Militär in die Provinz. Was ja insgesamt auch Maßnahmen sind, über die man bei einer potenziellen Pandemie schon mal reden kann. Die Frage ist: Warum redet man sonst nicht darüber? Corona hat uns vor allem eines gezeigt: Wie schief die kollektive, mediale und politische Wahrnehmung von Bedrohungen tatsächlich hängt.
Während die WHO aktuell diskutiert, ob man COVID-19 noch als Epidemie oder doch schon als Pandemie einstuft, hat die Hysterie auf jeden Fall schon pandemische Ausmaße angenommen: Corona macht die Panik, die uns Mikroplastik in der Luft, der Hunger in der Welt und die Kriege nebenan schon längst hätten machen sollen. Corona lässt innerhalb weniger Tage sanitäre Versorgungsstrukturen entstehen, die auf Lesbos seit Monaten dringend gebraucht würden. Corona zwingt Politiker*innen zu Entscheidungen und Stellungnahmen, die ihnen alle Femizid-Opfer zusammen in den letzten hundert Jahren nicht entlocken konnten.
Es ginge, wenn wir wollten
Corona versetzt das Volk in eine kollektive Habachthaltung, die die Luftverschmutzung mit ihren 4,6 Millionen Toten pro Jahr mindestens genauso rechtfertigen würde. Wenn, sagen wir, nur halb so viele Südtiroler*innen, die jetzt Hamsterkäufe machen, die Brennerautobahn blockieren würden, dann gäbe es beispielsweise sehr schnell raschere und mutigere Entscheidungen in einer Transitpolitik, die im Moment nur der Wirtschaft, aber sicher nicht der Gesundheit der Südtiroler*innen zuträglich ist. Und apropos Zukunft: Wer sich heute vor Corona in die Hosen macht, der darf sich morgen auf neue Erreger wie das Dengue-Fieber, Zika, Chikungunya oder das West-Nil-Virus freuen – denn bei steigenden Temperaturen breiten die sich auch dort aus, wo sie bisher nie waren.
Corona zeigt uns, dass es ginge, wenn wir wollten. Dass Staaten schnell, unbürokratisch und transnational helfen und kommunizieren können, dass sie Ausnahmeregelungen rasch umsetzen, Geld locker machen und Humanressourcen bereitstellen können, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen – wenn sie denn wollten. Man muss aber wohl davon ausgehen, dass sie bei den Kindern, die an der türkischen Grenze erfrieren oder denen sie auf der Insel Lesbos bei Krankheiten mit einer wirklich hohen Letalität wie Diabetes, Epilepsie oder Herzkrankheiten die medizinische Versorgung verwehren, einfach nicht wollen. Und auch vor der eigenen Haustür in der Euregio scheinen die Länder im Kampf gegen den Feinstaub, der nicht nur bis in unsere Lungenbläschen, sondern übers Blut in verschiedene Organe transportiert wird, im Vergleich zu Corona in einer legislativen Lethargie. Dabei sind das – verglichen mit dem Coronavirus – Probleme, gegen die wir Mittel und Möglichkeiten hätten und für deren akute Lösung es keine Raketenwissenschaft, aber Ressourcen und mutige Politik bräuchte. Eine Menschheit, die zwar Krankenhäuser in einer Woche auf-, aber den Pflegenotstand jahrelang nicht abbauen kann, sollte vor allem eines: ihre Prioritäten überdenken.
Das Psychogramm der Pandemie zeigt uns außerdem, wie dünn das Eis der Zivilisation ist, wenn Menschen und Medien kopflos werden. Die Leute, so scheint es, entwickeln bemerkenswerte Schwierigkeiten mit dem abstrakten Denken und können nur noch in simplen Mustern denken: Weil das Virus von China ausging, waren weltweit alle auch nur annähernd asiatisch aussehenden Personen plötzlich in Sippenhaft. Das war natürlich nicht schlimm, solange es „nur“ die Asiaten waren: Jetzt ist man aber im Ausland selbst die/der stigmatisierte Italiener*in und stinkbeleidigt, dass niemand mehr bei uns Urlaub machen will. Fühlt sich irgendwie unfair an, was?
Sie können Ihre asiatischen Nachbarn auch weiterhin ohne Mundschutz grüßen und Sie können insgesamt Ihr Leben ganz normal weiterleben.
Stigma ist wie eine zweite Krankheit: Es breitet sich aus, isoliert die Betroffenen und tut ganz schön weh – fragen Sie mal eine/n Alzheimerpatient*in oder eine/n Aidskranke*n. Dabei wäre gerade jetzt wie bei allen sozialmedizinischen Herausforderungen ein wünschenswertes Krisenprotokoll: Zusammenhalten, ruhig und sachlich bleiben in der Diskussion und Umsetzung staatlicher Maßnahmen und auf Halbwissen in Sozial- und reißerischen Printmedien zu verzichten, damit die Krise nicht zur Katastrophe wird.
Bleiben Sie ruhig!
Bleiben Sie deswegen bitte auch ruhig und hangeln Sie sich in Ihrer Pandemiepanik nicht entlang von Nationalitäten und Clichées – das tun Viren und Bakterien nämlich auch nicht. Sie können Ihre asiatischen Nachbarn auch weiterhin ohne Mundschutz grüßen. Und wenn Sie die klassischen Hygieneregeln und die staatlichen bzw. regionalen Präventionsempfehlungen und -maßnahmen einhalten, dann müssen Sie auch keine Zwiebelschalen bei Vollmond neben Ihre Vodoopuppe legen: Waschen Sie stets Ihre Hände und niesen Sie Ihrem/r Nachbar*in nicht in die Nudelsuppe. Fassen Sie sich nicht mit Ihren Händen in die Nase, an den Mund und in die Augen und – falls Sie das aus irgendwelchen Gründen reizt – auch nicht ihrem Gegenüber.
Und bitte bleiben Sie zu Hause, wenn Sie sich nicht gut fühlen, denn auch Sie sind, wirklich wahr, ersetzbar. Das gilt übrigens für jede Art von Infektion, ob mit Influenza oder Corona – chillen Sie bitte mit Netflix zuhause in Ihrer Poltrona. Denn wenn Sie einmal im Großraumbüro oder im Fahrstuhl ordentlich niesen, hat (fast) jeder was davon: Für jeden, der krank in die Arbeit geht und seine bakteriellen und viralen Duftmarken setzt, husten statistisch gesehen bald 40 Prozent der Kollege*innen mit. Lüften Sie die Räume regelmäßig und wenn sie zur vermuteten Risikogruppe der älteren oder immunsupprimierten Leuten gehören, dann seien Sie bitte besonders auf der Hut und reduzieren Sie etwa unnötige Sozialkontakte temporär.
Wenn Sie das alles beachten, dann dürfen Sie sich beruhigt über andere Dinge sorgen – Verkehrsunfälle, Feinstaub und Femizide etwa. Das haben wir nämlich alles genauso wenig im Griff wie das Virus. Denn so fortschrittlich wir auch sind, leider haben wir keinen Anspruch auf Unversehrtheit in unserer zerbrechlichen Menschlichkeit und das ist ebenso erschreckend wie tröstlich. Blöderweise hat das Leben selbst eine Letalität von genau 100 Prozent. Und zwar überall und jederzeit.
Wichtig ist, dass Sie trotzdem und genau deswegen immer dran denken: Das Wort „Pandemie“ kommt nicht von „Panik“ – aber gerade darin liegt des Virus’ gesamtgesellschaftliche Gefährlichkeit: Dass alle durchdrehen. Tun Sie es deswegen bitte nicht. Und falls Sie trotzdem zwanghaft die Fallzahlen kontrollieren und sich in der Apotheke um das letzte Lysoform prügeln müssen, denken Sie dran, dass Sie vermutlich nicht an Corona, sondern an koronaren Herzerkrankungen sterben werden und deswegen dringender als auf sterile Oberflächen auf etwas anderes achten sollten: auf Ihren Blutdruck.
*Letalität ist das Verhältnis der Todesfälle zur Anzahl der Erkrankten und gibt an, wie hoch die „Sterblichkeit“ einer Erkrankung ist.
Quelle: Barfuss 02.03.2020
Zur Autorin: Barbara Plagg
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